Kann Marine Le Pen die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewinnen, wenn ihre Gegner bei der Stichwahl am Sonntag nicht zur Urne gehen? Nachdem im vergangenen Jahr viele Anhänger von Hillary Clinton siegessicher am Wahltag zuhause geblieben waren und Donald Trump die Wahl zum US-Präsidenten gewann, erscheint im Analogieschluss solch ein Ausgang möglich. Doch es gibt gute Gründe, warum sich die Wahlen in Frankreich von denen in den USA unterscheiden und der Weg zum Sieg von Le Pen viel schwieriger wäre als der von Trump.

Der erste Grund ist, dass die französischen Demoskopen Wahlergebnisse viel besser vorhersagen als ihre Kollegen in Amerika. Viele Umfragen in den US-Bundesstaaten überschätzten, wie viele Demokraten wählen gehen würden - insbesondere im mittleren Westen, wo Trump überraschend vorne lag. In Frankreich prognostizierten die Meinungsforschungsinstitute das Ergebnis der ersten Wahlrunde mit hoher Genauigkeit, während die erwartete Wahlbeteiligung unterschätzt wurde.

Erst am 19. April sagten namenhafte Firmen wie Ifop und Cevipof voraus, dass 72 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgeben würden; selbst das war deutlich höher als noch Ende März von ihnen geschätzt. Vor diesem Hintergrund kamen Spekulationen auf, dass Le Pen letztlich einen höheren Prozentanteil der Stimmen erhalten könnte als Meinungsumfragen nahelegten. Am Wahltag setzten allerdings 78,69 Prozent der französischen Wähler ihr Kreuzchen.

Kein schwarzer Schwan

Das ist zwar noch immer keine sehr hohe Wahlbeteiligung, wenn die vorherigen neun direkten Präsidentschaftswahlen in der Fünften Republik als Massstab dienen. Die Partizipation des Wahlvolkes war nur bei drei davon niedriger. Es ist aber trotzdem ein respektables Ergebnis im Rahmen der vorherigen Urnengänge, und kein "Schwarzer Schwan".

Wahlen mit zwei Runden weisen eine andere Dynamik auf als solche mit nur einem Durchgang. Ein Wähler, der motiviert genug war, um seine Stimme einmal abzugeben, hat einen Anreiz, die Sache auch zu Ende zu führen. Taktische Abstimmungen sind keine qualvolle Wahl zwischen mangelhaften Alternativen, weil es keine bessere Option gibt - es ist die Norm, nachdem die Menschen in der ersten Runde nach ihrem Gewissen abgestimmt haben. In der Stichwahl nimmt die Wahlbeteiligung also normalerweise zu.

Es gab nur zwei Ausnahmen von der Regel: bei den ersten Direktwahlen im Jahr 1965, die Charles de Gaulle überzeugend gegen François Mitterrand gewann, und bei der ersten Wahl nach de Gaulle im Jahr 1969, als Georges Pompidou mit 58 Prozent zu 42 Prozent Alain Poher vernichtend schlug. In dem Jahr hatten viele linksorientierten Wähler die zweite Runde boykottiert. Insbesondere die Kommunisten betonten, dass es zwischen den beiden moderaten Kandidaten keinen Unterschied gebe. Übrigens hatte Pompidou im ersten Wahldurchgang einen überwältigenden Vorsprung: Er erhielt fast doppelt so viele Stimmen wie Poher.

Geringere Wahlbeteiligung in der zweiten Runde?

In gewisser Hinsicht ist die aktuelle Wahl ein wenig wie die von 1969. Den enttäuschten linken Anhängern von Jean-Luc Mélenchon und Benoît Hamon missfallen die Nationalistin Le Pen und der ehemalige Banker Macron gleichermassen. In den Umfragen zur Stichwahl hat Macron einen 60-zu-40-Vorsprung, so dass einige Menschen nicht motiviert genug sein dürften, ihre Stimme abzugeben, nur um eine nationalistisch-populistische Gefahr abzuwehren. Entsprechend - und im Einklang mit dem historischen Beispiel - sagen die Meinungsforscher eine geringere Wahlbeteiligung in der zweiten Runde voraus: wieder etwa 72 Prozent. Es ist allerdings möglich, dass sie nur auf Nummer sicher gehen wollen, so wie in der ersten Runde.

Abgesehen davon sollte selbst eine Wahlbeteiligung von weniger als 70 Prozent wie 1969 nicht zu einem Sieg von Le Pen führen, zeigen aktuelle Analysen der Wählerpräferenzen. Diese waren vor der ersten Wahlrunde äusserst präzise: Nach Trump und Brexit haben die französischen Meinungsforscher ihr Bestes getan, um auch die schwer erreichbaren Wähler zu berücksichtigen, etwa die Jungen, die Alten und Landbewohner. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die Modelle in den nächsten Tagen plötzlich zusammenbrechen werden.

Einer Umfrage von Opinion Way zufolge, die am 25. April veröffentlicht wurde, dürften sich eine Vielzahl der Fillon-Anhänger, die Hälfte der Mélenchon-Wähler und drei Viertel der Hamon-Befürworter Macron anschliessen. Einige enttäuschte Wähler sagen zwar, dass sie sich der Stimme enthalten wollen, wahrscheinlich macht das aber höchstens ein Drittel von ihnen. Darüber hinaus haben 29 Prozent der Wahlverweigerer aus der ersten Runde nun die Absicht, für Macron zu stimmen; neun Prozent wollen Le Pen den Rücken stärken.

Macron kann sich jederzeit ins Knie schiessen

Le Pen lag in der ersten Wahlrunde weniger als drei Prozentpunkte hinter Macron. Um in der zweiten Runde zu gewinnen, muss sie eine Vielzahl der Anhänger der stärksten unterlegenen Kandidaten auf ihre Seite holen oder eine grosse Mehrheit der "verwaisten" Wähler irgendeines Kandidaten aufnehmen. Es gibt zu diesem Zeitpunkt keine Anzeichen dafür, dass das geschieht. Angesichts der Inflexibilität von Le Pens Plattform und Image kann sie auch nicht viel machen, um zusätzliche Wähler zu gewinnen. Die Franzosen wissen, wer sie ist und wofür sie steht.

Nicht einmal ein Terroranschlag, der die Wähler theoretisch in Richtung ihrer einwanderungsfeindlichen Ansichten treiben könnte, dürfte noch etwas ändern: der Angriff an den Champs-Élysées, bei dem wenige Tage vor der ersten Wahlrunde ein Polizist getötet wurde, brachte ihrer Kampagne keinen Rückenwind.

Macron kann sich natürlich jederzeit ins Knie schiessen. Mit seiner Feier in der Brasserie La Rotonde hat er bereits einen Fehler begangen - schliesslich kann sich die Mehrheit der französischen Wähler das Restaurant nicht leisten. Bislang scheint er sich aber behaupten zu können. Selbst als Le Pen ihn bei der Schliessung eines Whirlpool-Werks in Amiens überraschte, gewann er noch ein paar Anhänger unter den verärgerten Arbeitern.

Doch auch wenn er ins Straucheln geraten sollte - was er im schmutzigen und intensiven Wahlkampf vor der ersten Runde vermeiden konnte -, dürfte sich das letztlich zu seinen Gunsten auswirken. Sein Vorsprung in den Umfragen ist zuletzt etwas geschrumpft, bleibt aber noch immer solide. Sollte sich der Trend in dieser Woche fortsetzen, werden mehr Le-Pen-Gegner einen Ansporn haben, in die Wahlkabine zu gehen und die Alternative zu unterstützen.

In anderen Worten: der Weg zur Präsidentschaft von Le Pen ist ein so schmaler Pfad, dass ihr Sieg in die Kategorie eines "Schwarzen Schwans" fallen würde. Nassim Taleb, der den Begriff geprägt hat, wies darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit von gewissen abwegigen Szenarien oft überschätzt wird, sobald diese in den Medien diskutiert werden. Bei all den schwarzseherischen Berichten, dass eine niedrige Wahlbeteiligung zu einem Le-Pen-Sieg führen würde, ist das wahrscheinlich der Fall.

(Kommentar von Leonid Bershidski, Bloomberg)