Bis eine Steuererklärung auf dem Tisch von Matthias Wendel landet, hat sie bereits einen weiten Weg hinter sich. Von den Steuerpflichtigen ausgefüllt, werden die Unterlagen zuerst auf den zuständigen Gemeinden vorsortiert. Nur die anspruchsvolleren Fälle finden ihren Weg - über logistische Umwege - zu den Steuerbeamten des Kantons Zürich. Einer davon ist der studierte Jurist Matthias Wendel. Die Schweizer Steuerzahler seien grundsätzlich ehrlich, sagt er im Gespräch. Steuer-Tricksereien trifft er äusserst selten an. Es sind aber häufig dieselben Themen, bei denen er den Rotstift zücken muss.
cash: Herr Wendel, muss man neugierig sein, um ein guter Steuerkommissär zu sein?
Matthias Wendel: Neugierig nicht unbedingt. Eher offen und interessiert an einem Jahr im Leben eines Menschen. Das muss ja neben den nackten Zahlen auch abgebildet werden. Bin ich zu neugierig, verzettle ich mich zu schnell in Details. Wachsamkeit und eine schnelle Auffassungsgabe sind ebenfalls wichtig.
Sie wissen über eine Person oft mehr als ein Ehepartner. Stellen Sie sich manchmal jemanden vor hinter den vielen Zahlen, die Sie sich anschauen?
Das ist mir noch nie passiert. Aber es kann schon sein, dass mir ein grosses Haus oder ein schönes Auto ins Auge springt.
Nicht alle Steuererklärungen werden vom Kanton bearbeitet. Mit welchen Fällen beschäftigen Sie sich?
Im Kanton Zürich werden jährlich 1 Million Steuererklärungen natürlicher Personen abgewickelt. Die Gemeinden verschicken und sammeln diese und führen eine erste Selektion durch. Standard-Fälle werden von den Gemeinden erledigt. Das macht gut die Hälfte des Gesamtvolumens aus. Die komplexeren Fälle, sämtliche Steuererklärungen juristischer Personen und selbständig Erwerbender werden dem Kanton überwiesen. Die Gemeinden machen zudem das Inkasso für die Staats- und Gemeindesteuern. Die direkte Bundessteuer wird hingegen vom Kanton eingezogen.
Wann gilt ein Fall als komplex?
Beispielsweise ein umfangreicher Unterhalt an einer Immobilie oder der Anfall einer Erbschaft. Im Folgejahr ist es dann gut möglich, dass die Steuererklärung wieder bei der Gemeinde bearbeitet wird.
Welche Aufgaben hat ein kantonaler Steuerkommissär?
Jeder Steuerkommissär muss jährlich eine bestimmte Anzahl Dossiers bearbeiten. Zu den Aufgaben gehört aber auch die Betreuung von Gemeinden bei Spezialfällen sowie die Beantwortung von Fragen der Steuerpflichtigen.
Wie läuft ein typischer Arbeitstag ab?
Wir arbeiten nach dem Prinzip 'first in, first out'. Man öffnet also ein Dokument und prüft die Angaben. Dazu vergleichen wir in einem ersten Schritt die aktuellen Angaben mit jenen des letzten Jahres. So erkennen wir rasch die wichtigsten Veränderungen wie Zivilstand, Familienzuwachs, Jobwechsel oder Vermögensanstieg. Zentrales Element ist der Lohnausweis, der auch Auskunft über Spesen, Berufsauslagen oder Geschäftsauto gibt. Wenn Abklärungsbedarf besteht, nehmen wir Kontakt mit dem Steuerpflichtigen oder seinem Vertreter auf. Dabei handelt es sich in der Regel um fehlende Belege. Ist alles in Ordnung, wird die Steuererklärung unverändert angenommen, falls nicht, wird ein Einschätzungsentscheid gefällt. Je nach Fall dauert das zwischen wenigen Minuten und mehreren Monaten.
Was passiert, wenn Sie einen Steuerpflichtigen persönlich kennen?
Das kommt gelegentlich vor. Dann muss ich in den Ausstand treten. Und zwar lieber einmal zu viel als zu wenig.
Ich nehme an, von Hand ausgefüllte Dossiers bedeuten für Sie einen deutlichen Mehraufwand. Kommt das noch häufig vor?
Der Anteil online ausgefüllter Steuererklärungen beträgt derzeit rund 15 Prozent, Tendenz steigend. Etwa 65 Prozent verwenden Programme wie Dr. Tax oder Private Tax. Aber jedes Dossier wird nach Eingang digitalisiert, so dass nur noch rund 20 Prozent der Steuererklärungen physisch von uns bearbeitet werden. Zum Beispiel bei einer grossen Anzahl Belege oder einem umfangreichen Wertschriftenverzeichnis. 80 Prozent der Fälle bearbeiten wir papierlos.
Werden bei fortschreitender Digitalisierung die Steuer-Dossiers also bald von Robotern bearbeitet?
Die Bevölkerung des Kantons Zürich wächst und es werden immer mehr Steuererklärungen. Effizienzsteigerungen gleichen das derzeit gerade aus. Unser Personalbestand ist also konstant. Es gibt Kantone, die bereits automatisierte Systeme im Einsatz haben. Bei uns ist das noch nicht der Fall, wird aber mit zunehmender Digitalisierung und wachsender Bevölkerung bestimmt ein Thema.
Aber momentan wird noch jede Steuererklärung von einem Mitarbeiter beurteilt?
Ja, allerdings ist die Intensität der Prüfung je nach Situation unterschiedlich.
Angenommen, Sie treffen korrigierte oder abgeänderte Einträge an. Ist das ein Anhaltspunkt, um misstrauisch zu werden?
Das kann schon sein. Beispielsweise, wenn jemand einen Lohnausweis fälscht. Aber das habe ich in meinen zwölf Jahren beim Steueramt höchstens zweimal gesehen. Misstrauen ist ohnehin das falsche Wort. Wir kommen sehr gut zurecht mit dem Prinzip der Selbstdeklaration. Das hat wohl auch damit zu tun, dass die Einwohner der Schweiz wissen, was sie für ihre Steuern bekommen.
Allerdings sind im vergangenen Jahr beim Steueramt so viele straflose Selbstanzeigen eingegangen wie noch nie. Sind die Einwohner der Schweiz weniger ehrlich als man meint?
Ich würde das nicht so verallgemeinern. Auf 1 Millionen Steuererklärungen sind die 2100 Selbstanzeigen vom letzten Jahr eine kleine Zahl. Die Zunahme hat auch mit dem bevorstehenden grenzüberschreitenden automatischen Informationsaustausch zu tun. Dabei handelt es sich zum Beispiel um geerbte Liegenschaften im Ausland, von denen wir sonst nichts erfahren. Grundsätzlich sind die Einwohner der Schweiz ehrlich. Klar wird ab und zu ein Abzug zu viel angegeben. Aber der Mechanismus funktioniert gut: Es gibt eine Deklaration, eine Überprüfung und falls nötig einen Entscheid. Gerade die zunehmende Digitalisierung führt dazu, dass weniger Fehler möglich sind und viele Abzüge automatisch gemacht werden.
Melden Sie zum Beispiel versäumte Abzüge?
Unser Auftrag ist, eine gesetzmässige Einschätzung vorzunehmen. Und wenn jemand Abzüge vergisst, die ihm zustehen, dann werden diese gewährt.
Sie entscheiden über tausende von Franken, die jemand bezahlen muss oder nicht. Wurden Sie schon bestochen oder beleidigt?
Nein, Bestechungen sind mir keine bekannt. Bei Korrekturen, die ins Geld gehen, kann es schon vorkommen, dass wir Telefonanrufe oder Schreiben erhalten, worin man persönlich angefeindet wird. Aber das sind Ausnahmen, und damit müssen und können wir umgehen.
In welchen Bereichen müssen Sie denn besonders häufig korrigierend eingreifen?
Im Bereich Liegenschaftenunterhalt zum Beispiel ist die Unterscheidung zwischen Unterhalt und Wertvermehrung oft schwierig. Oder die Berufsauslagen: Wann kann ein Büro zu Hause geltend gemacht werden? Das sind nicht unbedingt Fehler, aber Gebiete, in denen es relativ oft Korrekturbedarf gibt. Dann kann es sein, dass neue Gesetze für Überforderung sorgen, wie wir es anfangs bei der Familienbesteuerung gesehen haben. Das nächste grössere Thema ist die Begrenzung des Fahrkostenabzuges.
Wir stimmen bald über die Unternehmenssteuerreform drei ab. Würde eine Annahme für Sie einen Mehraufwand bedeuten?
Wie bei jeder Umsetzung einer Gesetzesänderung fällt ein Initialaufwand, beispielsweise in Form von Schulungen, an um sich in die neue Materie einzuarbeiten. Dies betrifft jedoch nicht nur Mitarbeiter des Steueramtes, sondern auch der Unternehmen. Gleiches gilt für Steuerberater. Die Unternehmenssteuerreform stellt dabei höhere Anforderungen als andere Gesetzesreformen.
Gibt es Beispiele von besonders dreisten Steuer-Tricksereien?
Ich habe schon Fälle angetroffen. Beispielsweise machte jemand Autokosten geltend, besass aber gar kein Fahrzeug. Das sind aber Einzelfälle. Wir werden selten absichtlich an der Nase herumgeführt.
Sind das Wiederholungstäter?
Es gibt einzelne Bürger, die uns mittlerweile bekannt sind. Das sind vielleicht ein Dutzend Personen, die uns wegen ihrer Starrköpfigkeit ein Begriff sind.
Wie gehen Sie in einem solchen Fall konkret vor?
Macht jemand zum Beispiel besonders viele Berufsauslagen geltend, verlangen wir zusätzliche Unterlagen. Ist unsere Beurteilung dann negativ, erfolgt eine Kürzung. Im schlimmsten Fall machen wir eine Teilermessenseinschätzung. Dann hat der Steuerpflichtige die Möglichkeit einer Einsprache. 2015 war rund 1 Prozent mit unseren Einschätzungen in der Sache nicht einverstanden. Rund 360 Fälle gingen vor das Steuerrekursgericht. Akteneinforderungen erfolgen aber nur, wenn sie notwendig sind. Denn wir wollen die Bürger nicht unnötig beschäftigen.
Wo liegt denn die Grenze zur Steuerhinterziehung?
Wenn wir eine Falschdeklaration feststellen, korrigieren wir sie. Eine Busse gibt es nur bei Vorsatz. Wenn wir etwas nicht merken und dies kommt im Nachhinein ans Tageslicht, dann gibt es ein Nachsteuerverfahren und eine Busse.
Viele Leute beschäftigen sich nicht gerne mit Steuern und bringen ihre Unterlagen zu einem Steuerberater. Lohnt sich das aus Ihrer Sicht?
Es ist sicher besser, zu einem Steuerberater zu gehen, wenn man sich mit der Materie nicht befassen will, als gar keine Steuererklärung einzureichen. Auch bei komplizierten Verhältnissen kann sich das unter Umständen lohnen. In der Regel machen wir mit sogenannten Vertretern gute Erfahrungen.
Sie sind Teamleiter und müssen Ihre Mitarbeitenden beurteilen. Können zu hohe Ziele die gründliche Arbeit verhindern?
Wir bringen den Leuten schon in der Ausbildung bei, einen Ermessensspielraum anzuwenden. Zum Beispiel beim Unterhalt von Liegenschaften kann man nie auf den Franken genau sagen, welches der richtige Betrag ist. Wir müssen alle Fälle in einer ansprechenden Qualität und gesetzeskonform abwickeln. Aber wir verstehen uns nicht als exakte Wissenschaftler. Nebst einer guten Ausbildung ist deshalb die Fähigkeit zur Abstraktion und Plausibilisierung sehr wichtig. Der Urtyp Buchhalter ist weniger geeignet.
Wer häufig an der Börse handelt, wird wohl kaum sämtliche Transaktionen im Wertschriftenverzeichnis eintragen. Wie gehen Sie dagegen vor?
In einem solchen Fall registrieren wir ab einem gewissen Punkt eine Vermögensveränderung und fragen dann nach. Zudem haben wir Wertschriften-Experten, die genau hinschauen. Wenn jemand die Steuererklärung von Hand ausfüllt, bedeutet das für ihn und für uns einen grossen Aufwand. Aber für fleissige Trader lohnt sich sowieso ein Steuerauszug der Bank. Es ist wohl auch eine Frage der Zeit, bis es elektronische Steuerverzeichnisse gibt.
Gibt es weitere Bereiche, wo der Steuerprozess verbessert werden kann?
Wir arbeiten laufend an elektronischen Verbesserungen. Wir haben soeben ein Online-Portal für die Quellensteuer eingerichtet, worüber Arbeitgeber ihre Meldungen machen können. Meine Prognose: In sechs bis sieben Jahren werden wir bei natürlichen Personen papierfrei arbeiten.
Nach getaner Arbeit: Der Schreibtisch eines Steuerkommissärs (Quelle: zVg).