"Die Rechnung müsste dann mal jemand machen, ob die Negativzinsen etwas genützt haben." Das raunte mir im Frühsommer ein erfahrener Vermögensverwalter zu, als das Ende der Negativzins-Ära der Schweizerischen Nationalbank absehbar wurde. Seine Bemerkung mit gewiss rhetorischem Einschlag klang fast wie eine Aufforderung an den Journalisten. Tatsächlich drängt sich am Ende einer Ära immer eine Bilanz auf. Doch so einfach ist die Negativzins-Rechnung nicht.

Für eine Kosten-/Nutzen-Analyse bräuchte es viele "Was wäre, wenn"-Szenarien mit ebenso vielen Konjunktiven. Wie hätte sich die Schweizer Volkswirtschaft also entwickelt, wenn die SNB den Leitzins Anfang 2015 nicht in den Negativbereich hätte sinken lassen oder nicht gleich im krassen Ausmass von minus 0,75 Prozent? Oder was wäre geschehen, hätte die SNB die Kursuntergrenze zum Euro noch aufrechterhalten? Und welche Wechselkurse hätten sich bei diesen Szenarien über die Jahre ergeben? Hätte sich ein nicht von der SNB gesteuerter Franken gar ähnlich entwickelt? Solch aufwändigen Kalkulationen werden sicher einmal angestrengt. Dafür ist es noch zu früh. Aber davon später.

Die SNB führte die Negativzinsen unter dem Druck der Schuldenkrise Europas ein mit dem Zweck, die internationale Flucht in den Schweizer Franken abzuschwächen. Die Notenbank unter der Führung von Präsident Thomas Jordan begründete das weltweit einzigartig hohe Zins-Ausmass damit, dass der Rendite-Abstand zu anderen Währungsräumen genug gross sein müsse, um den Franken für Investoren unattraktiv zu machen.

Ihr Ziel einer Nachfrage-Abschwächung beim Franken hat die SNB in den letzten Jahren in einem gewissen Ausmass sicherlich erreicht. Sie musste nebst den Negativzinsen allerdings auch aktiv Devisenkäufe in Milliardenhöhe tätigen, um den Franken einigermassen stabil zu halten - etwas, das mit dem Negativzins eigentlich nicht auf dem Planzettel der SNB gestanden hatte. Für Ihr Einschreiten erntete die SNB Applaus von der Exportindustrie und dem Tourismussektor. Die Unternehmen konnten die Absicherung der Währungsrisiken quasi der SNB überlassen.

Zur Nutzen- gehört aber auch die Kostenrechnung: Dass das Geld mit Null- und Negativzinsen keinen Preis mehr hat und als Schalthebel einer Volkswirtschaft wegfällt, löst per se schon Unbehagen aus. Unter dem Negativzins-Regime und den damit gesteuerten Wechselkursen zu leiden hatten in den letzten Jahren primär Importeure und damit die Konsumenten, aber auch Unternehmen und Sparer. Diesen wurden nicht bloss die Negativzinsen überwälzt, sie wurden von den Banken mit neu eingeführten Gebühren und Preiserhöhungen gleich doppelt an die Kandare genommen. Die Banken als wirkliche Verlierer der Negativzins-Ära aufzuführen, wäre daher etwas übertrieben.

Die wirklich gefährlichen Negativ-Folgen der Negativ-Zinsen sind indes nicht auf den ersten Blick erkennbar. Es ist eine internationale Entwicklung, die mit Beginn der Finanzkrise einsetzte und welche die SNB voll mitgestaltete: Es ist die ultraexpansive Geldpolitik und die Flutung der Märkte mit Unmengen Liquidität – was auch schon bezeichnet wurde als das "grösste Experimente der Zentralbanken-Geschichte".

Das Null- und Negativzinsumfeld führte zu einem Anlagenotstand, der sich in fast schon bizarrer Form im Immobilienmarkt manifestiert - und paradoxerweise unablässige Blasen-Warnungen der SNB zur Folge hatte für eine Entwicklung, für die sie wesentlich mitverantwortlich war und ist. Ein Beispie? Eigenheime in der Schweiz kosten in der Schweiz heute über 50 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren. Mit der Folge, dass sich hierzulande nur noch Gut-Verdiener Wohneigentum leisten können, das schon in Agglomerationsgemeinden liegt - soll man nicht gleich auf ein Maiensäss im Prättigau ausweichen. Im selben Atemzug muss man hier die deutlich gestiegene Verschuldung nicht bloss der Privathaushalte nennen, sondern auch der Unternehmen und Staaten.

Die Bilanzsummen der Notenbanken haben sich in den letzten Jahren zudem deutlich aufgebläht. Diejenige der SNB hat in diesem Jahr die Marke von 1000 Milliarden Franken zeitweise überstiegen. Das ist etwa 1,4-mal höher als das Bruttoinlandprodukt der Schweiz. Dieses Verhältnis ist weltweit am höchsten. Die gigantische Bilanzsumme, die kaum mehr abtragbar ist, stellt wohl weniger ein Stabilitätsproblem dar, zumal die SNB keine Geschäftsbank ist. Nein, die Nationalbank muss auf unabsehbare Zeit politischen Druck aushalten wegen AHV-Befütterung und ähnlichem. Wo Geld ist oder geschaffen wurde, entstehen Begehrlichkeiten. 

Womit wir wieder bei der Ausgangsfrage wären, ob die Negativzinsen etwas "genützt" haben. Meine Bauchgefühl-Bilanz sagt, ganz unwissenschaftlich: Eher nein. Vor allem nicht in dem harten Ausmass, wie die SNB die Sache durchgezogen hat. Die Kollateralschäden waren, sind und werden zu gross sein - und zu unberechenbar. Denn die Frage kommt wie erwähnt ohnehin zu früh. Die Folgen der ultraexpansiven Geldpolitik werden nun erst mit dem Zinserhöhungszyklus besser einschätzbar. Wir sollten nicht vergessen: Das "grösste Experiment der Zentralbanken" ist auch eines mit ungewissem Ausgang.