Laut Epidemiologen wurden dagegen klare Warnhinweise übersehen. Der WHO-Sondergesandte für Covid-19 warnte gar vor einer dritten Welle in der Schweiz. BAG-Direktorin Anne Lévy hat sich am Wochenende in einem Interview mit dem "Sonntagsblick" zuversichtlich gezeigt, "dass wir momentan in die richtige Richtung gehen". Es sehe nach einer Trendwende aus. Sie sei vorsichtig optimistisch.

Gestützt wird diese Einschätzung von der Entwicklung der sogenannten Reproduktionszahl (R-Wert). Die neusten, von der ETH Zürich online veröffentlichten provisorischen Werte liegen im schweizerischen Durchschnitt bei 0,78, in der Westschweiz sogar deutlich darunter. Die "Sonntagszeitung" hatte zuerst darüber berichtet.

Gleichzeitig bestritt die neue Chefin des BAG, dass die Schweiz zu wenig vorbereitet gewesen sei auf die zweite Welle. Man habe gewusst, dass eine zweite Welle komme und dass diese vermutlich heftiger sein werde als die erste.

Vom Ausmass überrascht

Die zweite Welle habe die Schweiz nicht unvorbereitet getroffen. Im Sommer hätten die Kantone sowohl das Contact Tracing als auch die Testkapazitäten ausgebaut. Niemand habe jedoch damit gerechnet, dass die Zahlen so schnell ansteigen würden.

Es sei in diesem Sommer legitim gewesen, "ein positives Szenario zuzulassen", stimmte auch Lukas Engelberger, Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektoren (GDK), dieser Einschätzung in einem Interview mit der "Sonntagszeitung" zu.

Widerspruch dazu gab es am Wochenende von der Epidemiologin Emma Hodcroft von der Universität Bern und David Nabarro, dem Sondergesandten der Weltgesundheitsorganisation WHO im Kampf gegen Covid-19. Hodcroft sagte gegenüber der Zeitung "Le Matin Dimanche": "Der langsame Anstieg der Fallzahlen im Juni und Juli hätte uns alarmieren müssen." Das seien schleichende Anzeichen gewesen, an die man sich aber gewöhnt habe.

Nabarro erklärte in einem Interview mit den CH Media-Medien vom Samstag, die Schweizer Behörden hätten es verpasst, in den Sommermonaten die nötige Infrastruktur aufzubauen, nachdem sie die erste Welle unter Kontrolle gebracht hatten. Die Folge sei die zweite Welle. Wenn man jetzt nicht handle, werde man Anfang 2021 die dritte Welle haben.

Die Länder Ostasiens hätten klar gezeigt: wenn man die Fallzahlen hinuntergebracht habe wie im Sommer, lockere man die bisherigen Massnahmen nicht. "Man wartet, bis die Fallzahlen tief sind und tief bleiben", so Nabarro. Erst müsse man vorbereitet sein, um künftige Ausbrüche zu stoppen.

Maurer sticht in Wespennest

Hoch gingen die Wogen am Wochenende - vor allem in den sozialen Medien - auch im Zusammenhang mit einer Aussage von Bundesrat Ueli Maurer in der "Samstagsrundschau" von Schweizer Radio SRF. Er hatte sich dort unter anderem auch zur hohen Zahl der Todesopfer in der zweiten Welle geäussert.

Er wies den Vorwurf zurück, die Corona-Krise sei diesbezüglich aus dem Ruder gelaufen. "Wir sind bewusst dieses Risiko eingegangen, weil wir eine Güterabwägung gemacht haben." Die Gesundheit sei zwar unbestritten wichtig, aber auch die Wirtschaft müsse leben und ein gesellschaftliches Leben müsse ebenso möglich sein. "Der Weg, den wir eingeschlagen haben, stimmt für mich."

Dass man ältere Menschen opfere, um die Wirtschaft am Laufen halten zu können, wies auch BAG-Direktorin Lévy zurück. Die Schweiz stehe nicht wesentlich schlechter da als das europäische Ausland. Aber jeder verfrühte Todesfall sei "einer zu viel, sehr tragisch und muss verhindert werden".

Auch GDK-Präsident Engelberger räumte ein, er könne sich vorstellen, "dass wir es dem Schwelbrand im Sommer zu einfach gemacht haben, indem wir zu sehr gelockert haben". Es sei aber noch zu früh, um das beurteilen. Man wisse noch nicht, ob es die Schweiz am Schluss wirklich schlimmer treffe.

(AWP)