Seit über drei Monaten vergeht fast kein Tag, dass Hongkong es wegen der Proteste nicht in den Schlagzeilen schafft. Für westliche Medien scheint die Lage klar: die Bevölkerung demonstriert für Demokratie, welche von der von Peking ferngesteuerten Lokal-Regierung der chinesischen Sonderwirtschaftszone Hongkong brutal unterdrückt wird. Für Chinas zensurierte Medien wiederum gilt es als erwiesen, dass hinter den Demonstrationen – nicht ganz ohne Grund –  "ausländische Kräfte mit niederen Motiven" die Strippen ziehen und die grosse Mehrheit der Hongkonger nur Ruhe und Ordnung wollen. 

Derweil rufen westliche Politiker – von Angela Merkel bis zu Donald Trump – die chinesische und Hongkonger Führung auf, Ruhe und Augenmass zu bewahren und den Konflikt friedlich zu lösen. Für China gelten solche Ermahnungen zu Recht als "Einmischung in die inneren Angelegenheiten". Der US-Kongress berät zum Beispiel über ein Gesetz, das eine jährliche Überprüfung Hongkongs vorschreiben würde.

Ein chinesischer Journalist der nicht genannt werden will, brachte "innere Einmischung" neulich auf den Punkt: Die chinesische Regierung habe ja bei den französischen Gelbwesten-Demonstrationen dem französischen Präsidenten auch keine Lehren erteilt.

Kommentatoren und Experten, die sich als China-Kenner aufspielen, schwadronieren leichtfertig mit Vergleichen zu den Protesten von Arbeitern und Studenten 1989 auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen. Die Wirklichkeit freilich entspricht keineswegs diesem Schwarz-Weiss-Muster. 

Doch Zuspruch und Klicks lassen sich in den westlichen analogen und digitalen Medien halt nicht mit Differenzierung erzielen. In China wiederum sind trotz der immer perfekter werdenden grossen digitalen Abwehrmauer  die Vorgänge in der südlichen Sonderverwaltungszone nicht ganz unbekannt. Im Folgenden einige Punkte, die es bei der Einschätzung der Vorgänge in Xiang Gang – dem Duftenden Hafen – zu beachten gilt. 

«Ein Land – Zwei Systeme»

Rechtliche Grundlagen: Das Grundgesetz, Basic Law, wäre wieder einmal im Detail zu konsultieren. Darin wird das vom grossen Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping und der britischen Premierministerin Thatcher in den 1980er-Jahren festgelegte Prinzip "Ein Land – Zwei Systeme" in Gesetzesform gegossen. Von der Rückkehr ins Mutterland 1997 bis 2047 darf sich demnach Hongkong in weitgehender Autonomie unter der Souveränität Chinas (Aussenpolitik, Verteidigung) selbst regieren mit Rechtsstaat, Trennung der Gewalten, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit.

All diese Garantien sind bis heute eingehalten worden. Während 155 Jahren unter englischer Kolonialherrschaft gab es für die Hongkonger jedoch weder Demokratie noch Freiheiten. Erst unter dem letzten Gouverneur entdeckten die britischen Kolonialisten drei Jahre vor der Übergabe Hongkongs an die Volksrepublik China plötzlich das Recht der Hongkonger auf Demokratie.

2014 kam es zu ersten Grossdemonstrationen über der Frage nach der allgemeinen Wahl des Regierungschefs, des Chief Executives. Peking willigte zwar in allgemeine Wahlen ein, liess aber nur von Peking abgesegnete Kandidaten und Kandidatinnen zu. Die Protestierenden lehnten das ab, obwohl ein Teil der Demonstranten es auf einen Versuch ankommen wollten. Ihre Überlegung: Wenn eine überwältigende Mehrheit leer einlegen würde, wäre die Pekinger Lösung ad absurdum geführt.

Auslieferungsgesetz bedeutet Rechtshilfe

In der aktuellen Lage noch mehr Beachtung sollte das umstrittene Gesetz zur Auslieferung verdächtiger Krimineller an China und andere Staaten finden. Das eben von der Administrationsvorsitzenden Carrie Lam Cheng Yuet-ngor endgültig zurückgezogene Gesetz vollzieht das, was in jedem Rechtsstaat – die Schweiz eingeschlossen – üblich ist: Nach einem Rechtshilfegesuch Verdächtige eventuell ausliefern. Der Gesetzesentwurf war übrigens vor drei Monaten der Grund für die ersten Demonstrationen. 

Polizeigewalt: In westlichen Medien war in den letzten Wochen immer wieder zu lesen, dass die Hongkonger Polizei immer brutaler werde. Tränengas wurde verschossen, dann Gummigeschosse, Pfeffersprays wurde eingesetzt und schliesslich – als Gipfel der Gewalt – wurden sogar Wasserkanonen aufgefahren.

Mit Verlaub: jede Schweizer Polizei verwendet bei  nicht bewilligten Protesten mit Demonstranten, die massiv Gewalt anwenden, Steine und Molotowcocktails werfen, Autos anzünden und Barrikaden errichten Tränengas und all das, was die Hongkonger Kollegen anwenden. Nebenbei bemerkt: Die Pekinger Polizei war bei den Arbeiter- und Studentenunruhen 1989 schlecht vorbereitet. Es fehlte an allem, an geschulten Polizisten, Wasserfern, Tränengas, Gummischrott etc. Deng Xiaoping entschied sich schliesslich zum Einsatz der Armee. 

Schwer definierbare, nebulöse Demokratie

Wie immer bei gewalttätigen Unruhen, kommt es auch zu Übergriffen der Polizei. Dazu gibt es, wie in jedem Rechtsstaat, Anlaufstellen, welche Vorwürfe untersuchen. Die gibt es auch in Hongkong. Die Demonstranten allerdings fordern eine "unabhängige Untersuchung". Das ist die zweite von fünf Forderungen: der Rückzug des Gesetzes ist bereits vollzogen, zusätzlich soll der Vorwurf, die Demonstrationen seien "Aufruhr", zurückgezogen werden. Schliesslich wird auch eine Amnestie für die über Tausend Verhafteten gefordert sowie der Rücktritt von Carrie Lam. 

Tiananmen 1989. Je länger die Unruhen in Hongkong dauern, umso mehr wird im Westen der Vergleich mit den Arbeiter- und Studenten-Unruhen in Peking und weiteren Städten Chinas herangezogen. Der Vergleich hinkt nicht nur, sondern er ist in jeder Beziehung falsch. 

Zunächst: Im Gegensatz zu China 1989 gibt es in Hongkong 2019, wie die Demonstrationen ja zeigen, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Dann sind die Auslöser und Hintergründe der Proteste total verschieden. Tiananmen 89 entzündete sich an einer überhitzen Wirtschaft, einer Hyperinflation und mündete zuerst in Forderungen nach Kampf gegen Korruption, nach mehr Transparenz und schliesslich im Ruf nach einer schwer definierbaren, nebulösen Demokratie.

Im demokratischen Hongkong spielen 2019 verschiedenste Faktoren mit, wirtschaftliche und soziale etwa sowie Zukunftsängste der jungen Demonstranten. Schliesslich hat sich die geopolitische Situation in den letzten dreissig Jahren grundlegend verändert. 

Privilegiertes Hongkong 

Der Vergleich jedenfalls zwischen Tiananmen 89 und Hongkong 2019 führt in die falsche Richtung.  Natürlich hält sich Peking jede Option offen, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Volksrepublik am 1. Oktober den 70. Jahrestag ihrer Gründung prunkvoll feiern will. Die Demonstranten dringen denn auch zu Recht darauf, dass die Proteste nicht als "Aufruhr" gelten, weil "Aufruhr" für das souveräne China – auch nach der Basic Law und dem Prinzip "Ein Land – Zwei Systeme" – ein Grund zum Eingreifen wäre.

Man sollte sich nicht täuschen, in China geniessen jenseits der zensurierten Medien die Hongkonger Proteste nicht grosse Sympathie. In den sozialen Medien, etwa Weibo und WeChat, wird viel von den privilegierten Hongkongern gesprochen. Solche Wortmeldungen verschwinden jeweils aber meist nach einiger Zeit wieder. 

Auch der 22 Jahre alte Joshua Wong, 2014 einer der Anführer der Regenschirm-Demonstranten, bemüht mitten in gewalttätigen Hongkonger Demonstrationen sehr abenteuerlich, abgehoben und wahrheitswidrig Tiananamen 89. "Uns steht eine diktatorische Macht gegenüber", so Wong die freie Meinungsäusserung in Hongkong nutzend, "die keine freiheitlichen Grundrechte zulässt und immer mehr gewalttätige Massnahmen anwendet, mit Tendenz zu einem neÜn Massaker wie am Tiananmenplatz". Wong wurde vom deutschen Aussenminister sowie von US-Ex-Präsident Obama empfangen, was in Peking zu Recht als Anmassung interpretiert wurde. 

Wer gut und differenziert informiert werden will, nutzt am besten die renommierte "South China Morning Post"(SCMP). Sie berichtet live (www.scmp.com) aber auch in gut recherchierten Hintergrundartikeln sowie in mutigen, oft sehr chinakritischen Kommentaren. Die SCMP gehört dem chinesischen IT-Konzern Alibaba Group, deren Gründer Jack Ma Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas ist.