Dorothea Baur, in der Ukraine ist ein Krieg ausgebrochen. Was bewegt Sie, wenn Sie davon hören?
Die Menschenleben bewegen mich. Ich hoffe, dass es möglichst wenig Opfer gibt.
Eine alte Börsenregel besagt, man soll investieren, wenn die Kanonen donnern. Wie hört sich das aus Sicht einer Wirtschaftsethikerin an?
Zunächst sehr zynisch, nach reinem Kriegsgewinnlerinteresse. Aber man muss genau schauen, worin man investiert.
Natürlich ist jetzt nicht jeder Aktienkauf zynisch.
Nein, grundsätzlich hält man mit Investitionen die Wirtschaft am Laufen. Zynisch wäre es, jetzt in Kriegsmaterialproduzenten zu investieren. Damit würde man ethische Prinzipien über Bord werfen, die allgemein gelten. Insofern ist es jetzt vielleicht ein Härtetest für diese Prinzipien.
Weil man auf mögliche Gewinne verzichtet.
Man kann jetzt vielleicht auch mit ethisch sinnvollen Börseninvestitionen profitieren. Vielleicht lohnt es sich jetzt, langfristig eher in erneuerbare Energien zu investieren, da die Gaspreise in die Höhe schnellen.
Damit profitiert man nicht direkt vom Krieg?
Nein, so kann man ethischen Prinzipien treu bleiben.
Kaufen Sie selber im Moment auch Aktien?
Ich bin passiv nach ethischen Kriterien investiert und sitze die Verluste aus.
Wie ethisch ist es, wenn jemand jetzt Aktien der Grossbanken UBS und Credit Suisse kauft, weil er glaubt, dass die profitieren könnten, wenn die Schweiz neutral bleibt?
Das Einbeziehen von politischen Umständen ist "daily business". Es macht keinen Unterschied, wenn man das auch im Fall eines Krieges tut; das ist nicht zynisch, solange die Aktien, die man kaufen will, zu einem grundsätzlich wertvollen, moralisch vertretbaren Geschäft gehören.
Wenn man in einen Kriegsmaterialhersteller investiert, ist das etwas anders.
Ja, ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ein ethischer Anleger, etwa ein Fonds, der sich ethisch nennt, das jetzt tut.
Wie ethisch ist es, derzeit russische Aktien zu kaufen, etwa einen breit diversifizierten Fonds auf einen russischen Aktienindex?
Damit will man eine der beiden Kriegsparteien fördern – den Aggressor. Das ist ein politisches Statement.
Der russische Börsenindex ist am Donnerstag drastisch abgestürzt. Was ist, wenn jemand wirklich nur wegen des möglichen Profits kauft, weil er denkt, dass die Börse nun überreagiert hat.
Es gibt keine klare Grenze, ab der man zum Kriegsgewinnler wird. Wenn man in eine Region investiert, die direkt im Krieg involviert ist, dann mag das rein profitorientiert sein, aber es bleibt dennoch mit einem politischen Statement verknüpft: Man hilft der Wirtschaft einer Kriegspartei, dem Aggressor.
Wir sind ein Wirtschaftsmedium – und die Börsenkurse interessieren derzeit unsere Leserinnen und Leser sehr, deshalb sind die Nachrichten dazu prominent auf unserer Internetseite platziert.
Als Wirtschaftsmedium ist es richtig, sich auf die Wirtschaft und in diesem Fall auf die Börse zu konzentrieren. Aber das sollte nicht isoliert erfolgen, sondern in den Kontext der realen Welt gesetzt werden. Man sollte etwa die Frage stellen, was steigende Gaspreise für Pensionskassen, für soziale Systeme heissen. Dann ist es legitim.
Wenn die Leute hier in der Schweiz jetzt als Erstes die Börsenkurse anschauen, ist das dann ethisch fragwürdig?
Nein, man kann Mitleid mit den Menschen in der Ukraine haben und sich gleichzeitig um sein Portfolio kümmern. Wir helfen den Menschen in der Ukraine nicht, wenn wir nicht ins Portfolio schauen.
Falls Anlegerinnen und Anleger jetzt Gewinne machen, wenn sie in die russische Wirtschaft investieren oder in Kriegsmaterialhersteller, könnte man diese besteuern.
Das wäre unglaublich bürokratisch. Man müsste zudem bestimmen, wer Kriegsgewinnler ist und wer nicht. Die Definition ist schwierig. Sowieso hätte das politisch kaum eine Chance.
Aber wenn es politisch möglich wäre?
Ich wäre trotzdem dagegen, weil die Steuer suggerieren würde, dass es okay ist, Kriegsgewinne zu machen.
Was, wenn die Steuereinnahmen in die Friedensförderung investiert würden?
Man kann sich nicht von der Moral freikaufen. Zudem könnte das Anreize setzen, sogar ein Business daraus zu machen, womit dann die moralischen Grenzen des Marktes erreicht wären.
Aber Friedensförderung ist ein hehres Ziel.
Nächstenliebe ist immer wichtig. Weil der Markt nicht alles regelt. Man sollte Nächstenliebe und solche Hilfestellung nicht an Gewinne aus dem Finanzmarkt koppeln, sondern sie sowieso bieten, entlang von persönlichen Überzeugungen. Sich freikaufen durch Philanthropie geht im Kontext von Krieg gar nicht.
Dorothea Baur ist selbstständige Beraterin für Ethik, soziale Verantwortung und Nachhaltigkeit mit Schwerpunkt Finanzen und Technologie. Sie berät Banken und Versicherungen zu Fragen der Ethik und Nachhaltigkeit. Unter anderem ist sie bei der Thurgauer Kantonalbank Vorsitzende des Fachrates Nachhaltigkeit.
Dieses Interview erschien zuerst im Digitalangebot der "Handelszeitung" unter dem Titel: "Man kann Mitleid haben und sich um sein Portfolio kümmern"