Der Westen muss sich nach Einschätzung von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg darauf vorbereiten, dass der Krieg "Jahre dauern könnte", wie er der "Bild am Sonntag" sagte. Deshalb dürfe die Unterstützung für die Ukraine nicht nachlassen. Die Kosten dafür seien hoch, aber das sei kein Vergleich zu dem Preis, den die Ukraine jeden Tag mit vielen Menschenleben zahle, sagte Stoltenberg.

Auch der britische Premierminister Boris Johnson rechnet nicht mit einem baldigen Ende. Der russische Präsident Wladimir Putin habe sich auf einen Abnutzungskrieg verlegt, um die Ukraine "mit schierer Brutalität" in die Knie zu zwingen, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag für die "Times on Sunday". Die Ukraine selbst peilt neue Verhandlungen mit Russland erst für Ende August an - nach ukrainischen Gegenangriffen.

Luftangriffe auf Kiew - Selenskyj verspricht Rückeroberung des Südens

Russland griff die ukrainische Hauptstadt Kiew am Wochenende erneut mit Raketen an. Sirenen und Explosionen waren zu hören. Nach offiziellen Angaben schoss die ukrainische Luftabwehr russische Raketen über der Stadt jedoch ab. Demnach gab es keine Schäden oder Verletzte. Im erbitterten Kampf um das Verwaltungszentrum Sjewjerodonezk im Osten des Landes erzielten russische Truppen Geländegewinne und drangen in einen Vorort ein. Im Chemiewerk Azot in der Stadt werden weiterhin Hunderte Zivilisten vermutet. Für sie gibt es nach Einschätzung britischer Geheimdienstexperten kaum noch Wege aus der Stadt.

Auch im Süden der Ukraine wurde weiter gekämpft. Dort hat Russland grosse Teile des Küstengebietes am Schwarzen Meer unter Kontrolle. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj versprach nach einem Besuch in der Frontregion die Rückeroberung der von Russland eingenommenen Gebiete im Süden. "Wir werden niemandem den Süden abgeben. Alles, was uns gehört, holen wir zurück", sagte Selenskyj in einer Videoansprache. Am Wochenende hatte die Ukraine bekannt gegeben, ein weiteres Schiff der russischen Schwarzmeerflotte versenkt zu haben.

Moskau: Dutzende ukrainische Generäle und Offiziere getötet

Das russische Militär hat nach eigenen Angaben mit einem Raketenangriff einen Führungsgefechtsstand der ukrainischen Streitkräfte zerstört. Durch den Schlag seien mehr als 50 Generäle und Offiziere der ukrainischen Streitkräfte, darunter auch Generalstabsoffiziere sowie der Kommandostab eines Truppenverbands im Gebiet Mykolajiw und Saporischschja, getötet worden, sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow. Daneben seien durch die Kalibr-Raketen auch mehrere westliche Artilleriesysteme vom Typ M777 und bis zu 20 gepanzerten Fahrzeuge auf einem Werksgelände in Mykolajiw vernichtet worden. Unabhängig können diese Angaben nicht überprüft werden.

Getreideexporte überfordern Rumänien - Scholz appelliert an Moskau

Noch immer hängen Millionen Tonnen Getreide in der Ukraine fest, der Weg über das Schwarze Meer ist blockiert. Eine Ausweichroute über Rumänien stellt das Nachbarland der Ukraine vor eine "logistische Herausforderung von epischem Ausmass", wie Rumäniens Staatspräsident Klaus Iohannis jüngst sagte. Florin Goidea, Generaldirektor des grössten rumänischen Schwarzmeer-Hafen Constanta, sieht keine schnelle Lösung des Problems. "Mehr als 80 Prozent des ankommenden ukrainischen Getreides erreicht unseren Hafen auf kleinen Frachtschiffen über die Donau", sagte er.

Bundeskanzler Scholz forderte Russland auf, einzulenken. "Russland muss einen sicheren Transport ermöglichen und zugleich glaubhaft zusichern, dass es einen solchen Korridor nicht für eine Invasion nutzt", sagte er der dpa. Die Ernährungskrise soll auch Thema beim G7-Gipfel sein, bei dem Deutschland den Vorsitz hat. Experten warnen bereits vor der schlimmsten Hungersnot seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Habeck will Gasverbrauch in Deutschland senken

Der Krieg hat nicht nur Folgen für die Ernährungs-, sondern auch für die Energiesicherheit. Weil Russland Gaslieferungen nach Deutschland gedrosselt hat, will Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) mehrere Massnahmen ergreifen, um den Verbrauch zu senken und eine schwere Krise zu verhindern. Um die Einspeicherung von Gas zu sichern, stellt die Bundesregierung schon in Kürze eine zusätzliche Kreditlinie über die Staatsbank KfW in Höhe von 15 Milliarden Euro zur Verfügung, wie es aus Regierungskreisen hiess. Der Kredit ist demnach mit dem Finanzministerium besprochen. Weitere Massnahmen sind angekündigt, um auch aufseiten der Industrie den Verbrauch zu verringern. Zur Stromerzeugung soll weniger Gas und Kohlekraftwerke "stärker zum Einsatz kommen"./htz/DP/men

(AWP)