Hoffnungen für den Libanon hat Saad al-Hariri nicht mehr. Es gebe keinerlei Chancen auf eine positive Entwicklung, sagte der Ex-Ministerpräsident, als er kürzlich seinen Rückzug aus dem öffentlichen Leben bekanntgab und zum Boykott der Wahlen im Mai aufrief. Als Gründe nannte der Sohn des 2005 ermordeten langjährigen Regierungschefs Rafik al-Hariri die tiefe Spaltung seines Heimatlandes, den Staatskollaps und allem voran den starken Einfluss des Iran. Doch gerade die schiitische Regionalmacht könnte nach dem Abgang des führenden Sunniten-Politikers mithilfe der Hisbollah-Miliz ihre Kontrolle über den Vielvölkerstaat am Mittelmeer noch weiter ausbauen.
Die ohnehin schon mächtige, mit dem Iran verbündete Hisbollah macht sich nach Informationen aus ihren Kreisen längst Hoffnungen darauf, aus dem Rückzug ihres Gegenspielers Hariri politisches Kapital zu schlagen. Finanziell ist die 1982 von den iranischen Revolutionsgarden gegründete, schwer bewaffnete und von den USA als Terrororganisation eingestufte Gruppe besser aufgestellt als viele andere im Libanon.
In dem Land, das seit langem von Konflikten zwischen den verschiedenen Religionsgruppen geprägt ist und nach einem Proporzsystem regiert wird, hat die zerstrittene politische Elite die Finanzkrise auch nach Jahren nicht in den Griff bekommen. Ein grosser Teil der Bevölkerung ist inzwischen unter die Armutsgrenze gerutscht. Die Weltbank spricht von einem der grössten wirtschaftlichen Zusammenbrüche, den es weltweit je gegeben hat. Der Finanzkollaps gilt als grösste Bedrohung für die Stabilität des Libanon seit dem Bürgerkrieg von 1975 bis 1990.
Drusen-Politiker Dschublat: Hariri war Garant für Mässigung
Die Ungewissheit über die Zukunft des Landes verschärft sich mit Hariris Rückzug nun noch mehr. Die Entscheidung des 51-Jährigen sei traurig für das Land, sagt Walid Dschumblat, führender Politiker der Drusen-Minderheit. Hariri sei ein Garant für Unabhängigkeit und Mässigung gewesen. Sein Rückzug bedeute "freie Hand für die Hisbollah und die Iraner", so Dschumblat.
Unter dem Einfluss der Hisbollah ist der Libanon in den vergangenen Jahren zu einem jener Staaten der Region geworden, in denen die iranische Führung einen grossen Einfluss hat. Dagegen gehalten hat lange Hariri, dessen Familie die sunnitische Bevölkerungsgruppe im Libanon seit 30 Jahren dominiert hat. Sein Rückzug aus der Politik dürfte die Zersplitterung im Sunniten-Lager vorantreiben. So setzt die Hisbollah nach Information aus ihren eigenen Reihen darauf, dass ihre eigenen Verbündeten unter den Sunniten jetzt erstarken. In der Regel sind dies Lokalpolitiker, die landesweit keine so grosse Rolle spielen wie Hariris Partei, die Zukunftsbewegung.
Mit der Hisbollah verbündete Sunniten luchsten der Partei bereits bei der Wahl 2018 Stimmen ab. Insgesamt verlor die Zukunftsbewegung damals schon ein Drittel ihrer Sitze, Hariri blieb aber der führende Politiker der Sunniten. Zuletzt schwand sein Einfluss, vor allem entschiedene Hisbollah-Gegner - wie sein eigener Bruder Bahaa - wandten sich von ihm ab.
Nachdem Saad al-Hariri das politische Erbe seines Vaters angetreten hatte, gehörte er selbst zunächst zu den Hardlinern gegenüber der Schiiten-Miliz. Unterstützt wurde er dabei von Saudi-Arabien, dem sunnitischen Erzrivalen des Iran. Doch die Regierung in Riad liess ihn inzwischen fallen. Zuletzt fokussierte sich der Machtkampf zwischen Saudi-Arabien und dem Iran auf den Jemen, wo eine Militärkoalition unter saudischer Führung gegen die mit dem Iran verbündeten Huthis kämpft.
Hariris Bruder Bahaa ist radikaler Hisbollah-Gegner
Hariri hatte im Verlauf seiner politischen Karriere immer mehr einen Kompromisskurs gegenüber der Hisbollah eingeschlagen und dies bis zuletzt damit begründet, dass er vor allem einen neuen Bürgerkrieg verhindern wolle. Doch nicht alle sind so nachgiebig, und die Sunniten könnten nun Hariri durch radikalere Politiker ersetzen. Auch Hariris Bruder Bahaa als entschlossenerer Hisbollah-Gegner ist im Gespräch.
Ohnehin sind nicht alle Analysten davon überzeugt, dass Hariris Abgang die Hisbollah in Freudentaumel stürzt. "Ich bin mit nicht so sicher, wie glücklich die Hisbollah ist", sagte Heiko Wimmen, Libanon-Experte bei der Nicht-Regierungsorganisation "International Crisis Group". "Es ist im Interesse der Hisbollah, zumindest nach aussen den Eindruck zu erwecken, ein funktionierendes politisches System zu haben, an dem alle beteiligt sind, einschliesslich der Sunniten."
Auch ob die Wahl im Mai nach dem Boykottaufruf Hariris überhaupt stattfindet, halten viele für fraglich. Wenn es ihnen nutzen könnte, seien alle grossen politischen Gruppen für eine Verschiebung des Urnengangs zu haben, sagte der stellvertretende Chefredakteur der Tageszeitung "Annahar", Nabil Boumonsef.
(Reuters)