Die "Washington Post" berichtete, dass mehrere Gegner kurz davor seien, einer Vereinbarung zuzustimmen und für McCarthy zu stimmen. Es sei aber offen, wann genau dies passieren werde. Erwartet wurde demnach auch, dass McCarthy bei einer Abstimmung am Freitag nicht alle notwendigen Stimmen bekommen würde - aber zumindest einige Rebellen ihre Blockade aufgeben könnten. Die Republikaner haben in der Kammer nur eine ganz knappe Mehrheit. Daher bräuchte McCarthy fast alle Stimmen seiner Parteikollegen, um auf den mächtigen Posten gewählt zu werden, der in der staatlichen Rangfolge in den USA auf Rang drei nach dem Präsidenten und dessen Vize folgt.

Der 57-Jährige war seinen Gegnerinnen und Gegner zuletzt immer weiter entgegen gekommen und hat sich damit auch erpressbar gemacht. Die radikalen Parteirebellen, die in weiten Teilen glühende Anhänger des ehemaligen Präsidenten Donald Trump sind, fordern unter anderem die Änderung interner Verfahrensregeln im Kongress. Mit dieser Anpassung würde ihre Macht im Parlament gestärkt. "Vor allem aber scheinen McCarthys hartnäckigste Gegner darauf aus zu sein, ihn zu Fall zu bringen", urteilte die "New York Times". Viele von ihnen scheinen die Aufmerksamkeit zu geniessen - sie tingeln durch die US-Talkshows und machen aus ihrer Blockadehaltung eine Show.

Am Donnerstag stimmten trotz weiterer Zugeständnisse wie schon zuvor 20 Republikaner hartnäckig für alternative Kandidaten aus ihrer Partei. Sie stellten McCarthy damit bloss und versagten ihm einen Wahlsieg. Eine weitere republikanische Abgeordnete enthielt sich. Je länger sich der Machtkampf hinzieht, desto wahrscheinlicher ist es, dass McCarthy Unterstützung in den eigenen Reihen verliert. Beobachtern zufolge muss er bei weiteren Abstimmungen einige Rebellen auf seine Seite ziehen, um zu zeigen, dass es zumindest etwas Bewegung in der verfahrenen Situation gibt.

Der republikanische Fraktionschef redete die interne Revolte gegen ihn immer wieder öffentlich klein und wies Vorwürfe zurück, dass ihn der Aufstand in den eigenen Reihen schwäche. Mit Blick auf das historische Ausmass des Dramas sagte er: "Ich mag es, Geschichte zu schreiben." Er halte schliesslich auch schon den Rekord für die längste Rede im Repräsentantenhaus.

Die aktuelle Abstimmung über den Spitzenposten gehört bereits jetzt zu den längsten in der US-Geschichte. Seit dem 19. Jahrhundert haben die Abgeordneten im Repräsentantenhaus nicht mehr so viele Anläufe gebraucht, um einen neuen Vorsitzenden zu wählen wie derzeit. Mehr Wahlgänge gab es zuletzt nur 1859/1860. Damals wurde der Republikaner William Pennington erst im 44. Wahlgang zum Vorsitzenden der Kongresskammer gewählt. Das Prozedere dauerte damals mehrere Wochen.

Wie lange das Gezerre diesmal andauern wird, ist völlig unklar. Es zieht sich bereits seit Dienstag hin: Das Repräsentantenhaus war da zu seiner konstituierenden Sitzung nach der Parlamentswahl im November zusammengekommen. Die Republikaner übernahmen wieder die Kontrolle in der Kongresskammer, wenn auch nur mit ganz knapper Mehrheit. Doch anstatt ihre neue politische Stärke zu demonstrieren, stürzte die Partei die Kammer in Chaos und brachte die Arbeit des Parlaments zum Stillstand. Denn bis der Vorsitz geklärt ist, geht im Repräsentantenhaus gar nichts: Die Kammer kann ihre Arbeit nicht aufnehmen. Nicht mal die bei neuen Abgeordneten können vereidigt werden. An gesetzgeberische Arbeit ist erst gar nicht zu denken.

Die chaotischen Zustände in der amerikanischen Demokratie fallen ausgerechnet in eine Zeit, in der das Land an die beispiellose Attacke auf das US-Kapitol erinnert. Der brutale Angriff auf den Parlamentssitz jährte sich am Freitag zum zweiten Mal.

Anhänger Trumps hatten am 6. Januar 2021 gewaltsam das Kongressgebäude in der Hauptstadt Washington erstürmt. Dort war der Kongress damals zusammengekommen, um den Sieg des Demokraten Biden bei der Präsidentenwahl formal zu bestätigen. Trump hatte seine Anhänger zuvor bei einer Rede damit aufgewiegelt, er sei durch massiven Wahlbetrug um einen Sieg gebracht worden. Als Folge der Krawalle kamen fünf Menschen ums Leben./jac/DP/ngu

(AWP)