Ukrainische Streitkräfte seien dank der Unterstützung aus Nato-Staaten zuletzt in der Lage gewesen, Moskaus Offensive im Donbass zu stoppen und Territorium zurückzuerobern, erklärte der Norweger am Freitag in einer Pressekonferenz mit US-Aussenminister Antony Blinken. Die Solidarität des Westens dürfe nun trotz Energiekrise und steigender Lebenshaltungskosten nicht nachlassen.

Zweifel weckte Stoltenberg an deutschen Argumenten gegen die Lieferung grosser Mengen Bundeswehr-Waffen an die Ukraine. Auf die Frage, ob Alliierte eher Fähigkeitsziele des Bündnisses erfüllen sollten, als der Ukraine noch mehr Ausrüstung zu liefern, machte er deutlich, dass er eine Niederlage der Ukraine für gefährlicher hält als unter Plan gefüllte Waffenlager von Nato-Staaten.

"Der Preis, den wir zahlen, wird in Geld gemessen. Der Preis, den die Ukrainer zahlen, wird in Leben gemessen", sagte Stoltenberg. Wenn die Ukraine aufhöre zu kämpfen, werde sie "als unabhängige Nation nicht mehr existieren", warnte er. Deshalb müsse man am bisherigen Kurs festhalten - "um der Ukraine und um unser selbst willen".

«Die Ukraine ist und wird frei sein»

Auch nach Einschätzung von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin macht die Ukraine bei ihrer laufenden Gegenoffensive Fortschritte. "Wir sehen jetzt Erfolge in Cherson, wir sehen einen gewissen Erfolg in Charkiw - und das ist sehr, sehr ermutigend", sagte der Ex-General am Freitag am Rande eines Besuchs in Prag.

Die ukrainische Armee war zuvor im Osten des Landes tief in den Rücken der russischen Besatzungstruppen vorgedrungen. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte am Donnerstagabend die Rückeroberung der Kreisstadt Balaklija im Gebiet Charkiw bestätigt. Die Armee habe seit Anfang September mehr als 1000 Quadratkilometer der Ukraine befreit, sagte er in seiner Videoansprache. "Die Ukraine ist und wird frei sein", versprach er. Allerdings halten russische Truppen nach früheren Angaben etwa 125'000 Quadratkilometer in der Ukraine besetzt. Das ist ein Fünftel des Staatsgebietes einschliesslich der Halbinsel Krim. Der Freitag ist der 198. Tag des Krieges.

Blinken: Ukraine muss in bestmöglicher Lage für Verhandlungen sein

Die USA wollen die Ukraine in ihrer Gegenoffensive gegen Russland in eine starke diplomatische Verhandlungsposition bringen. "Wir sehen in diesem Moment keine Anzeichen von Russland, dass es bereit ist, eine solche Diplomatie ernsthaft zu betreiben. Aber wenn dieser Zeitpunkt kommt, muss die Ukraine in der bestmöglichen Position sein", sagte Blinken am Freitag nach einem Treffen mit Stoltenberg.

Blinken lobte die ukrainische Offensive und Geländegewinne im Süden und Osten des Landes als "echte Fortschritte". Es sei noch zu früh zu sagen, wie sich die Lage entwickeln werde. Die Moral der ukrainischen Soldaten sei aber deutlich höher als die der russischen Streitkräfte.

Polnischer Ministerpräsident Morawiecki reist nach Kiew

Zu Beratungen über die geopolitische Lage, militärische Entwicklung und Energiesicherheit ist Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki überraschend nach Kiew gereist. Dort nehme Morawiecki auch an einer Konferenz teil, sagte sein Regierungssprecher Piotr Müller am Freitag im polnischen Fernsehen. F

ür den Politiker der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ist es der dritte Besuch in der Hauptstadt des Nachbarlandes seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die Reise sei vor allem ein politisches Signal an den Kreml, betonte Müller. "Die Verteidigung der Ukraine ist auch die Verteidigung unserer Sicherheit."

Putin und Erdogan wollen nächste Woche über Getreide-Abkommen reden

Nach seiner Kritik am Abkommen über den Export von ukrainischem Getreide will Russlands Präsident Wladimir Putin sich darüber Ende kommender Woche mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan austauschen. Die Export-Vereinbarung war im Juli unter türkischer Vermittlung zustande gekommen, nachdem Millionen Tonnen Getreide wegen des Krieges in ukrainischen Häfen blockiert waren.

Erst vor wenigen Tagen drohte Putin nun indirekt damit, sie wieder platzen zu lassen. "Ein Gespräch von Putin und Erdogan ist möglich und notwendig und wird bereits vorbereitet", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge am Freitag mit Blick auf einen Gipfel in Usbekistan in Zentralasien in der kommenden Woche.

Bericht: Hunderte Milliarden für Wiederaufbau der Ukraine nötig

Der Ukraine-Krieg hat in gut drei Monaten bereits einen Schaden von mindestens 97 Milliarden US-Dollar (96,4 Mrd Euro) verursacht. Das geht aus einem am Freitag veröffentlichten Bericht von ukrainischer Regierung, Weltbank und Europäischer Kommission hervor. Der Berechnungszeitraum ersteckt sich vom Beginn des Krieges am 24. Februar bis zum 1. Juni. Als am stärksten beschädigt gelten die Gebiete Donezk, Luhansk und Charkiw. Die in diesem Zeitraum durch den Krieg entstandenen finanziellen Verluste werden mit fast 252 Milliarden US-Dollar (250,3 Mrd US-Dollar) angegeben.

Die Ukraine hatte bereits angekündigt, bei der UN-Vollversammlung Kriegsentschädigungen aus Russland von mindestens 300 Milliarden US-Dollar (300 Mrd Euro) durchsetzen zu wollen.

EU setzt Visa-Erleichterungen für Russen ab Montag aus

Russische Bürger profitieren ab Montag nicht mehr von einer erleichterten Visa-Vergabe für Reisen nach Deutschland und andere Staaten des Schengen-Raums. Der Rat der EU-Staaten nahm am Freitag den Vorschlag der Europäischen Kommission an, das zwischen der EU und Russland geschlossene Abkommen zur Erleichterung der Visa-Vergabe komplett auszusetzen. Der Schritt soll dafür sorgen, dass die Zahl der neuen Visa für Russen signifikant sinkt. Schutzbedürftige Menschen sollen aber weiter ein Visum bekommen können.

(AWP)