Wie geplant begann am Montag die jährliche Wartung der Pipeline durch die Ostsee, bei der der Gasfluss üblicherweise für zehn Tage unterbrochen wird. Regierungen, Märkte und Unternehmen sind aber besorgt, dass Russland die Abschaltung aus politischen Motiven wegen des Krieges in der Ukraine über den 21. Juli hinaus verlängern könnte. Was nach diesem Datum passiere, könne derzeit niemand wissen, sagte der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, im Reuters-TV-Interview. "In zehn Tagen ungefähr wissen wir, ob Gas weiterhin fliessen wird."
Die Nord Stream 1-Pipeline transportiert jährlich 55 Milliarden Kubikmeter Gas von Russland nach Deutschland durch die Ostsee. Zum Beginn der Wartungsarbeiten fielen die Buchungen für den Gas-Fluss am Montagfrüh wie erwartet auf Null, der Gasfluss würde gedrosselt, teilte der Betreiber mit. Russisches Gas wird aber auch durch die Ukraine nach Westen geleitet. Der russische Energiekonzern Gazprom teilte mit, dass über den Grenzpunkt Sudzha am Montag 39,4 Millionen Kubikmeter Gas nach Westen gepumpt werden, nach 41,9 Millionen am Sonntag. Durch die durch Polen laufende Jamal-Pipeline leitet Gazprom schon länger kein russisches Gas mehr. Deutschland bekomme aber auch jetzt weiterhin Gas, betonte Bundesnetzagentur-Chef Müller.
Streit um technische oder politische Gründe
Gazprom hatte seine Lieferungen durch die Nord Stream 1-Pipeline bereits seit geraumer Zeit auf 40 Prozent des Volumens reduziert. Deutschland und andere EU-Staaten kaufen deshalb auch auf den Weltmärkten Gas ein, um die Speicher für Herbst und Winter zu füllen. Die Bundesregierung hat ein Bündel an Notmassnahmen beschlossen, mit denen auf eine mögliche Gasknappheit in den kommenden Monaten reagiert werden soll. Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte am Sonntag gesagt, dass die 15 Milliarden Euro, die Gasversorger zum Einkauf von Flüssiggas aus anderen Staaten zur Verfügung gestellt wurde, auf Grund der steigenden Gaspreise möglicherweise nicht ausreichen werden. Parallel müssen Gasversorger wie Uniper staatlich gestützt werden, weil sie die hohen Preise für den Gaseinkauf derzeit kaum an die Kunden weitergeben können. Die Bundesnetzagentur arbeitet zudem an Notfallplänen, nach welcher Priorität Gas verteilt werden soll, wenn es knapp werden sollte. In Deutschland gilt derzeit die zweite Stufe eines dreistufigen Gas-Notfallplans. Die Gasspeicher in Deutschland sind derzeit zu etwas mehr als 63 Prozent gefüllt.
Während Russland für die Gas-Drosselung der vergangenen Wochen technische Gründe angab, hält Bundeskanzler Olaf Scholz dies für vorgeschoben und wirft der russischen Regierung vor, Gas als politische Waffe einzusetzen. Um Russland keinen Vorwand zu liefern, hatte sich die Bundesregierung aber bei der kanadischen Regierung dafür eingesetzt, dass eine dort gewartete Siemens-Turbine der Nord Stream 1-Pipeline zurückgeschickt und wieder eingesetzt werden darf. Kanada gab dazu am Wochenende die offizielle Genehmigung. Siemens sagte zu, die über Deutschland gelieferte Turbine so schnell wie möglich zu installieren. Die russische Regierung hatte am Freitag erklärt, dass mit der Turbine wieder mehr Gas geliefert werden könnte.
Erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft
Ökonomen erwarten durch hohe Gaspreise und mögliche Lieferengpässe enorme Belastungen für die Volkswirtschaft. Bliebe das Gas aus, würde zwar nicht sofort der Gas-Notstand herrschen, doch eine weitere Befüllung der Gasspeicher für den Winter wäre schwierig und spätestens 2023 müsste das Gas dann rationiert werden, erläuterte VP-Bank-Chefvolkswirt Thomas Gitzel. "Die deutsche und die europäische Wirtschaft würden in eine tiefe Rezession abrutschen." Der Schaden für die Wirtschaft könnte sich in der zweiten Hälfte dieses Jahres auf 193 Milliarden Euro (195 Milliarden Dollar) belaufen, wie aus Daten der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) vom letzten Monat hervorgeht. "Das abrupte Ende der russischen Gasimporte hätte auch erhebliche Auswirkungen auf die Beschäftigten in Deutschland ... Rund 5,6 Millionen Arbeitsplätze wären von den Folgen betroffen", sagte vwb-Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt.
Die Auswirkungen würden aber ganz Europa treffen. Ein kompletter Stopp würde die europäischen Gaspreise, die Industrie und Haushalte bereits stark belastet haben, noch länger hochhalten. Die niederländischen Grosshandelspreise für Gas, die europäische Benchmark, sind seit Juli letzten Jahres bereits um mehr als 400 Prozent gestiegen.
(Reuters)