Kreml-Chef Putin sagte in seiner Rede zur Lage der Nation, dass es sich bei der Abkehr vom "New-Start"-Abrüstungsvertrag mit den USA von 2010 um eine Aussetzung handele, keinen Ausstieg. Den USA warf er ein "Theater des Absurden" vor - weil Washington Moskau beschuldigt, keine Experten zur Inspektion der atomaren Verteidigungsanlagen ins Land zu lassen. Wenn in Zeiten solcher Spannungen der Westen erwarte, dass Russland Zugang gewähre, sei das "Blödsinn", sagte Putin.

Der "New Start"-Vertrag begrenzt die Atomwaffenarsenale beider Länder auf je 800 Trägersysteme und je 1550 einsatzbereite Sprengköpfe. Zudem ist geregelt, dass Washington und Moskau Informationen über ihre strategischen Atomwaffenarsenale austauschen und bis zu 18 Verifikationsbesuche pro Jahr abhalten dürfen.

US-Aussenminister Antony Blinken nannte die angekündigte Aussetzung "äusserst bedauerlich und unverantwortlich", bekundete aber weitere Gesprächsbereitschaft über strategische Rüstungsbegrenzungen. "Wir werden genau beobachten, was Russland tatsächlich tut", fügte er laut einer vom Aussenministerium veröffentlichten Mitschrift in Athen hinzu. Die USA würden in jedem Fall dafür sorgen, dass die eigene Sicherheit und die der Verbündeten gewährleistet sei.

Die Schuld am Einmarsch in die Ukraine schob Putin in seiner Rede zum wiederholten Mal dem Westen zu, obwohl er den Angriff vom 24. Februar 2022 selbst angeordnet hatte. "Sie haben den Krieg losgetreten", sagte er in Richtung westlicher Staaten. Russland versuche lediglich, die Kämpfe zu beenden. Der 70-Jährige kündigte eine Modernisierung der Armee an und sagte den Kriegsteilnehmern und ihren Familien finanzielle Hilfe zu. Den annektierten Gebieten im Osten und Süden der Ukraine versprach er Wiederaufbau und Arbeitsplätze. Zudem hätten sich "die russische Wirtschaft und das Verwaltungssystem als viel stärker erwiesen als vom Westen erwartet". Für diese Woche haben die EU und die USA neue Sanktionen wegen des Krieges angekündigt.

Biden: Nato stärker als je zuvor

In Warschau hob US-Präsident Biden zunächst die Stärke der Nato hervor. "Es ist das bedeutsamste Bündnis, ich würde sagen, vielleicht das bedeutsamste Bündnis der Geschichte", sagte er bei einem Gespräch mit Polens Staatsoberhaupt Andrzej Duda. Ein Jahr nach Beginn des Kriegs sei die Nato "stärker als je zuvor". Duda dankte Biden seinerseits für die in Polen stationierten US-Truppen sowie dessen Besuch in der ukrainischen Hauptstadt Kiew am Montag. Dies habe die Moral der ukrainischen Verteidiger gestärkt, sagte Duda. "Aber es war auch eine bemerkenswerte Geste gegenüber unseren Verbündeten in der Nato und den Menschen, die auf der Seite der freien Welt stehen."

Biden hatte am Montag gemeinsam mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj symbolträchtige Orte in Kiew besucht. Er versprach der Ukraine die anhaltende Unterstützung der USA. In einer Rede vor dem symbolträchtigen Warschauer Königsschloss wollte er nach US-Angaben am Dienstag die Kraft der Demokratie hervorheben.

Italiens Ministerpräsidentin in Kiew

Einen Tag nach Biden reiste auch Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni nach Kiew. Vor einem geplanten Treffen mit Selenskyj besuchte sie laut Mitteilung der italienischen Regierung unter anderem Butscha, wo russische Truppen Massaker an Zivilisten verübt hatten.

Ebenfalls noch am Dienstag wurde Chinas oberster Aussenpolitiker Wang Yi in Moskau erwartet. Aussenminister Qin Gang sagte bei der Vorlage eines Konzeptpapiers zur angekündigten Globalen Sicherheitsinitiative (GSI) von Staats- und Parteichef Xi Jinping in Peking: "China ist tief besorgt, dass der Konflikt eskaliert und sogar ausser Kontrolle geraten könnte." Aber: "Gleichzeitig drängen wir betreffende Länder, sofort damit aufzuhören, das Feuer anzufachen, damit aufzuhören, China zu beschuldigen und damit aufzuhören, lautstark zu tönen: "Ukraine heute, Taiwan morgen"", sagte der Minister, der in Chinas Hierarchie unter Wang Yi steht. Er wies damit wachsende internationale Sorgen zurück, dass China ähnlich wie Russland in der Ukraine einen Krieg zur Eroberung der demokratischen Inselrepublik Taiwan starten könnte, das Peking als Teil der Volksrepublik ansieht.

Sechs Tote bei Artillerieangriff

Ein russischer Artillerieangriff in der südukrainischen Grossstadt Cherson tötete nach Behördenangaben mindestens sechs Menschen und verletzte zwölf. Es seien ein Wohnviertel und eine Bushaltestelle beschossen worden, hiess es am Dienstag. Präsident Selenskyj mahnte: "Die Welt hat kein Recht, auch nur für eine Minute zu vergessen, dass die russische Brutalität und Aggression keine Grenzen kennt."

HRW: Kriegsverbrechen in Kramatorsk

Der Raketeneinschlag auf einem Bahnhof mit Flüchtlingen im ostukrainischen Kramatorsk im vergangenen April war nach einer grossen Studie der Organisation Human Rights Watch "ein mutmassliches Kriegsverbrechen". Russland habe mit Streumunition Dutzende Menschen, die fliehen wollten, getötet und damit gegen das Kriegsrecht verstossen, teilte HRW in Kiew mit. Russland bestreitet, die Rakete abgefeuert zu haben, und bezichtigt die ukrainische Armee. Mindestens 58 Menschen starben, mehr als 100 wurden verletzt./and/DP/nas

(AWP)