Olaf Scholz gilt vielen als Mann ohne Emotionen. Man kennt ihn oft unbewegt, sachlich und fast monoton. Doch als der Kanzlerkandidat der SPD am Sonntagabend im Willy-Brandt-Haus in Berlin als erster auf die Bühne tritt, begleitet von seiner Frau Britta Ernst, strahlt der 63-Jährige. "Olaf, Olaf"-Rufe branden auf, Scholz winkt den jubelnden Anhängern zu. Die beiden Parteivorsitzenden Norbert-Walter Borjans und Saskia Esken halten links und rechts Abstand und klatschen. Das Bild macht deutlich, wer das Machtzentrum bildet. "Olaf, Du hast den Menschen Zuversicht und Vertrauen gegeben in die SPD", sagt Esken. "Vielen Dank, das ist Dein Erfolg." Bei manchen in der SPD herrscht auch Erleichterung, dass eine Koalition mit der Linken wohl keine Mehrheit hätte - eine mögliche Zerreissprobe über die Partnerwahl bliebe der Partei damit erspart.

Am frühen Abend ist noch nicht entschieden, ob die SPD am Ende wirklich als stärkste Partei aus der Bundestagswahl hervorgeht. Erst das vierte Mal in der Nachkriegsgeschichte gehen die Sozialdemokraten bei einer Bundestagswahl womöglich vor CDU und CSU ins Ziel. Zuletzt gelang ihnen dies 2002, als sie mit einem Vorsprung von 6027 Stimmen knapp die Wiederwahl von Rot-Grün unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) sicherten. Seither ging es mit den Sozialdemokraten bei Bundestagswahlen fast stetig bergab, mit einem kleinen Ausrutscher nach oben unter dem Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück 2013.

19 Jahre später kann Scholz - nach Stand der Hochrechnungen - mit etwa 25 Prozent beanspruchen, dass der Regierungsauftrag der Wählenden an die SPD gehe. "Jetzt warten wir das endgültige Wahlergebnis ab - aber dann machen wir uns an die Arbeit", sagt Scholz. Die Wähler hätten für die SPD gestimmt, weil sie einen Regierungswechsel wollten "und dass der nächste Kanzler dieser Republik Olaf Scholz heisst". Für die Sozialdemokraten seien die Balken bei allen drei Wahlen nach oben gegangen. Für die SPD wäre ein Dreifach-Sieg bei der Bundestagswahl und zwei Landtagswahlen an einem Abend historisch - doch am Abend war noch offen, ob neben einem klaren Sieg in Mecklenburg-Vorpommern auch ein Wahlerfolg in Berlin eingefahren würde.

Hohe Hürden für Regierungsbildung

Noch vor zwei Monaten stand die SPD in den Umfragen bei 15 bis 16 Prozent, schien abgeschlagen und einbetoniert auf Platz drei hinter Union und den Grünen. Was aussieht wie eine rasante Aufholjagd binnen zwei Monaten, ist tatsächlich der Erfolg eines langen Prozesses und der Entschlossenheit von Partei, Fraktion und Kanzlerkandidat, keine alten Gräben aufzureissen. Diese Geschlossenheit hätte bei der Koalitionsfrage auf die Probe gestellt werden können: Als Wunschkoalition von Scholz gilt ein Ampelbündnis mit Grünen und FDP, doch nach den Umfagen war auch eine rechnerische Mehrheit für Rot-Grün-Rot mit der Partei Die Linke erwartet worden. Teile der Partei liebäugeln mit einem solchen Bündnis. Dass dies nach den Hochrechnungen nicht möglich sein wird, kommentiert einer von den SPD-Linken lakonisch: "Vielleicht nur schade, dass sich die FDP jetzt aufblähen kann."

Dies spielt darauf an, dass Teile der SPD gerne mit einer Möglichkeit von Rot-Grün-Rot Druck auf die FDP ausgeübt hätte, sich Verhandlungen über eine Ampel nicht zu verschliessen. Denn bei der Regierungsbildung tun sich hohe Hürden auf. Zum einen sieht die FDP als möglicher Koalitionspartner grössere Gemeinsamkeiten mit der Union, die trotz grosser Verluste ebenfalls einen Auftrag zur Regierungsbildung für sich reklamierte. Und die Grünen pochen auf entschiedene Veränderungen zum Schutz des Klimas. Arbeitsminister Hubertus Heil will sich auf Koalitionsüberlegungen nicht einlassen: "Ich bin kein Pokerer. Es geht um verlässliche Politik für das Land. Unser Ziel ist Olaf Scholz als Bundeskanzler."

Kurs auf die Ampel?

Für einen hochrangigen SPD-Vertreter liegt die Stossrichtung zur Regierungsbildung auf der Hand. Er verweist auf SPD, FDP und Grüne: "Das sind die drei Parteien, die deutlich Stimmen dazugewonnen haben. Das läuft also alles auf eine Ampel-Koalition hinaus." Ein Ampelbündnis hätte vor allem Differenzen in der Steuer- und Finanzpolitik zu klären, auch in der Sozialpolitik wären Gräben zu überbrücken. Eine erneute Koalition mit der Union kommt kaum infrage. "Die CDU ist abgewählt", sagt Heil. "Das zeigt das Wahlergebnis."

Den Wahlerfolg schreiben SPD-Vertreter mehreren Gründen zu: der Geschlossenheit, der Übereinstimmung von Kanzlerkandidat und Wahlprogramm und den Kompetenzwerten von Scholz. Den grössten Anteil am Wahlerfolg hatte am Ende Scholz womöglich selbst. Schon sehr früh zu Beginn der Wahlperiode setzte er darauf, dass Wähler und Wählerinnen erst spät registrieren würden, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht wieder antrete - und dass er derjenige sei, dem für ihre Nachfolge die grösste Kompetenz zugetraut werde. Scholz profitierte von Schwächen bei Grünen und Union. Im ZDF-Politbarometer hiess es: Am liebsten als Kanzler hätten 47 Prozent Scholz. Seine Mitbewerber Armin Laschet und Annalena Baerbock kamen auf 20 Prozent und 16 Prozent.

Die SPD warb mit Scholz für sich. Der Wahlerfolg dürfte somit das Machtzentrum in der SPD vorerst verlagern, ins Finanzministerium unter Scholz. "Er hat die SPD in Führung gebracht", sagte ein Vorstandsmitglied vor der Wahl. "Es ist völlig klar, dass alle Gespräche zur Regierungsbildung unter seiner Führung laufen müssen." Ob die Koalitionsfrage zur Machtprobe wird, dürfte sich erst später zeigen. Schwierig würde eine erneute Koalition mit der Union: "Das hätte Sprengkraft für die Partei", sagte eine Bundestagsabgeordnete vor der Wahl.

(Reuters)