Kaum Requisiten, aber klare Botschaft. In einer Videoansprache an die Nation hält der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj diese Woche sein Smartphone in die Kamera und startet eine Timer-App. Im Hintergrund heult eine Luftschutzsirene. "Das hat 20 Sekunden gedauert", sagt Selenskyj. "Aber wir hören es stunden-, tage-, wochenlang. Unsere Landsleute nehmen sofort ihre Kinder, helfen Älteren und gehen in die Schutzräume, um zu überleben und den russischen Raketen und Bomben zu entkommen."
Unrasiert, in seinem inzwischen charakteristischen olivgrünen T-Shirt sitzt Selenskyj am Schreibtisch. Er verdeutlicht den 44 Millionen Ukrainern in wenigen kurzen Sätzen, dass er genau das Gleiche durchmacht wie sie. Zudem hält er den Druck auf die Nato hoch, eine Flugverbotszone zu verhängen.
Der Ex-Schauspieler Selenskyj gilt vielen als Medienprofi, der als Chefkommunikator eine Vorbildfunktion übernimmt. Doch es könnte zunehmend schwieriger werden, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich zu ziehen. "Er wird sich bewusst sein, dass sich die Welt weiterbewegt. Die Welt wird müde", sagt Alastair Campbell, Sprecher des ehemaligen britischen Premierministers Tony Blair, der Nachrichtenagentur Reuters. "Er weiß, dass man immer wieder neue Wege finden muss, um das Thema im Mittelpunkt der globalen öffentlichen Debatte zu seinen Bedingungen zu halten." Dies habe Selenskyj bisher sehr gut gemacht. "Aber es wird schwieriger, je länger es dauert."
Selenskyj ist zweifellos zum Gesicht des ukrainischen Widerstands gegen das vermeintlich übermächtige Russland geworden. Geholfen hat hierbei eine Mischung aus Social-Media-versierten, leidenschaftlichen Reden und einer virtuellen Tour durch die Parlamente der Welt, darunter auch der Bundestag. Das Ziel ist immer dasselbe: Selenskyj wirbt um Hilfe für die Ukraine, Waffen und Geld. Er versucht, zu verhindern, dass die internationale Empörung über das Vorgehen Russlands abebbt.
Wer mit ihm eng zusammengearbeitet hat, den überrascht der bisherige Umgang des 44-Jährigen mit dem Krieg nicht wirklich. Juliia Mendel, Selenskyjs Sprecherin in seinen ersten beiden Jahren als Präsident 2019 bis 2021, sagt zu Reuters, dass der frühere Schauspieler viel Zeit und Mühe in seine Reden gesteckt habe. Er könne sich auch schnell auf Situationen einstellen. "Jetzt nimmt er sich einfach sein Telefon und macht ein Selfie-Video, ohne sich viel um Beleuchtung und sein Aussehen zu kümmern - und dass er sich wahrscheinlich nicht rasiert hat." Der informelle Rahmen bringe ihn den Menschen näher. "Denn wenn alle so sehr leiden, wäre es wirklich seltsam, wenn er versucht, förmlich auszusehen."
«Er spricht aus dem Herzen, aber ohne emotional zu sein»
Der ehemalige Komiker Selenskyj, der einst einen fiktiven Präsidenten in einer beliebten Fernsehserie spielte, bevor er in die Politik ging, hat nun eine ganz andere Rolle. Bisher funktioniert dies offenbar. Laut der Forschungsgruppe Rating hat sich Selenskyjs Beliebtheit in der Ukraine seit Dezember auf 91 Prozent verdreifacht. 93 Prozent seiner Landleute gehen davon aus, dass die Ukraine den Krieg gewinnen wird.
Je länger der Krieg dauert, desto stärker kontrolliert Selenskyj die Medien im Land. Er hat private Fernsehsender faktisch geschlossen, indem er die Berichterstattung um einen staatlichen Sender herum vereinheitlichte. Die Ukraine hatte eine abwechslungsreiche Medienszene, wobei große Fernsehsender Unternehmensgruppen gehörten, die konkurrierende politische Interessen förderten. Jetzt sendet die einheitliche TV-Nachrichtenplattform Reden und Interviews von Selenskyj, ausgewählten Staatsbeamten und regionalen Bürgermeistern, die sich mit der Not in den Städten befassen, die dem russischen Angriff ausgesetzt sind.
Als Reuters Selenskyj 2019 zum ersten Mal als Präsidentschaftskandidaten interviewt, geschieht dies hinter der Bühne bei einem Comedy-Wettbewerb, an dem er teilnimmt. Drei Jahre später spricht er im März erneut mit Reuters in einer unter Beschuss stehenden Stadt, geschützt von bewaffneten Soldaten, in mit Sandsäcken übersäten Räumen.
Für Medienexperte Campbell macht Selenskyjs "Gefühl für Authentizität" ihn zu einem effektiven Kommunikator: "Man hat wirklich den Eindruck, dass dies ein Typ ist, der die ganze Zeit aus dem Herzen spricht, aber ohne zu emotional zu sein."
(Reuters)