Die Erwartung besteht, dass die rechtsnationalistische Marine Le Pen und der linksliberale Emmanuel Macron am nächsten Sonntag in die Stichwahl um das Amt des Präsidenten Frankreichs kommen. Am 7. Mai wird Macron dann haushoch siegen und in den Elysée einziehen, den Präsidentenpalast in Paris.

Dies ist alles möglich, doch Frankreich im Jahr 2017 ist ein unberechenbares Land. Es kann noch ganz anders kommen. Dazu kommt, dass auch mit der Stichwahl die nächsten fünf Jahre im politischen Frankreich noch nicht zwingend entschieden sein werden. Dies sind die Gründe:

Umfragen

Die "sondages" gelten in Frankreich als noch unpräziser als in Grossbritannien oder den USA – und dort sahen die meisten weder das Brexit-Ja noch die Trump-Wahl voraus. Die Boulevardzeitung "Le Parisien" schrieb sogar im Januar, keine Umfragen veröffentlichen zu wollen (sie tut es aber nun doch).

Letzte Daten zeigen: 23 Prozent der Wählerinnen und Wähler sind für Emmanuel Macron, En Marche; 22 Prozent für Marine Le Pen, Front National; 19,5 Prozent für Jean-Luc Mélenchon, La France insoumise; 19 Prozent für François Fillon, Les Républicains. Von diesen vier Kandidaten, so sagen Beobachter, kann jeder in die Stichwahl kommen. Rund ein Viertel der Befragten sagt, sich noch nicht entschieden zu haben.

Von den traditionellen Parteien kandidiert auch Benoît Hamon von der Parti Socialiste – immerhin die Partei des Noch-Präsidenten François Hollande. Hamon kommt in den Umfragen auf 8 Prozent und gilt als chancenlos. Daneben gibt es weitere Kandidaten von kleinen Parteien und Bewegungen.

Marine Le Pen

Von ihrem rechtextremistischen Vater Jean-Marie Le Pen hat sich die Kandidatin des Front National distanziert. Dies hat ihr neue Wähler eingebracht. Mit ihrer strikten Anti-Einwanderer-Politik steht auch Marine Le Pen sehr weit rechts. Indem sie aber den Sozialstaat betont, die Globalisierung ablehnt und multinationale Grosskonzerne kritisiert, kommt sie zum Teil auch in traditionell sozialistisch-gewerkschaftlichen Kreisen an.

Le Pen könnte es in die zweite Runde schaffen, aber weil alle anderen Parteien eine Anti-Front-National-Allianz bilden werden, verliert sie (wahrscheinlich) in der zweiten Runde. Le Pen bleibt aber zumindest bis zum 7. Mai das Schreckgespenst der Finanzmärkte, denn sie will Frankreich zu einer eigenen Währung zurückführen. Dies wiederum würde die Krise der EU und der Eurozone weiter verschärfen.

Emmanuel Macron

Der 39-jährige Ex-Rothschild-Banker ist der Liebling der Finanzmärkte und der übrigen EU-Staaten. Der frühere Wirtschaftsminister der Sozialisten tritt als Unabhängiger mit der neu gegründeten Polit-Bewegung "En Marche!" (Nach vorne) an.

Macron führt in den Umfragen für den ersten Wahlgang, aber die Unterstützung für ihn ist "weich", wie die Kommentatoren sagen - viele Macron-Sympathisanten sind sich noch nicht sicher, ob sie ihn wirklich wählen wollen. Politisch gibt sich Macron relativ wirtschaftsliberal. Zudem ist er ein Verfechter des Pro-EU-Lagers und er setzt weiter auf die enge Zusammenarbeit mit Deutschland. Ein genau definiertes Programm hat Macron aber nicht.

Überraschungen

Der konservative Hardliner François Fillon wurde durch einen Skandal um Schein-Jobs für seine Familie und um teure Geschenke in den Umfragen zurückgeworfen. Doch halten es längst nicht alle für ausgeschlossen, dass er in die Stichwahl kommt und am 7. Mai doch noch Präsident wird. Seine Partei "Les Républicains" ist gut organisiert, und das ländliche und katholische Frankreich sowie ein Teil der Wirtschaft unterstützen ihn weiter.

Eine Überraschung könnte aber auch von Jean-Luc Mélenchon kommen: Der Kandidat führt die linke Bewegung "La France insoumise" (Das widerspenstige Frankreich). Die in Frankreich starke Anti-Globalisierungs-Welle könnte Mélenchon überraschend in die Stichwahl bringen, eventuell gegen Marine Le Pen. Für die Finanzmärkte wäre ein zweiter Wahlgang zwischen der extremen Rechten und der extremen Linken – beide Anti-Euro, Anti-Grosskonzerne und Anti-Establishment – ein Alptraum.

Schlechte Stimmung

Frankreich sieht sich als Grossmacht und auch als bedeutende Nation in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht. Doch der Glanz verblasst: Das Land verliert an Wettbewerbsfähigkeit und internationalem Einfluss, Zentralismus und Bürokratie lähmen das Land, und die Franzosen sehen ihre Zukunft immer düsterer. Als besonders problematisch gilt, dass der gesellschaftliche und wirtschaftliche Mittelstand schrumpft.

Umfragen zufolge ist Frankreich heute eines der Länder mit der EU-skeptischsten Bevölkerung. Die Globalisierung und die englischsprachige Welt werden kritisch gesehen. Desinteressiertheit, der so genannte "dégagisme", nimmt zu. Die Wahlbeteiligung könnte mit 70 Prozent tief sein, was wiederum die schwierig zu beantwortende Frage aufkommen lässt, welchem Kandidaten dies am meisten nützt oder schadet.

Parlamentswahlen

Zwar hat ein Präsident in Frankreich sehr viel Macht. Was angesichts der Fixierung auf die Präsidentenwahl oft vergessen wird, ist: Die Machtverhältnisse in Paris entscheiden sich nicht nur am 7. Mai. Am 11. und 18. Juni finden auch Parlamentswahlen statt. Dann schlägt trotz aller Anti-Establishment-Stimmung die Stunde der gut organisierten traditionellen Parteien, die derzeit einen Grossteil der 577 Sitze halten: Die Sozialisten haben in der Assemblée Nationale 48,5 Prozent, die Konservativen 33,6 Prozent.

Bei allen möglichen Siegern der Wahl ausser François Fillon von den Konservativen steht eine komplizierte Regierungsbildung in Aussicht. Weder Marine Le Pen, noch Emmanuel Macron, noch Jean-Luc Mélenchon könnten mit ihren Bewegungen parlamentarische Mehrheiten erringen - weil sie nicht genug geeignete Kandidaten aufstellen können. Macron wäre am ehesten in der Lage, sich Unterstützung zu holen, und zwar bei den Sozialisten und den Mitte-Links-Parteien.