Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat am Sonntag im Bundestag von einer Zeitenwende gesprochen. Sehen Sie das auch so?

Tobias Straumann: Ja, da bin ich einverstanden. Offen ist, wie weit diese Zeitenwende gehen wird. Aber es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass sich die Dinge gerade fundamental ändern. Ein Beweis dafür ist die drastische Erhöhung des deutschen Verteidigungsbudgets. Deutschland hat sich ja vorher lange geweigert, dem Nato-Ziel nachzukommen, 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Obwohl die Amerikaner das seit Präsident Barack Obama immer wieder gefordert haben. Die Kehrtwende Deutschlands bei der Verteidigung ist wirklich ein tiefer Einschnitt, ein Zeichen dafür, dass eine neue Zeit anbricht. Zudem zeichnet sich ein Umdenken ab in Bezug auf die Abhängigkeit vom russischen Gas. Auch das ist ein Schnitt. 

Stehen wir vor einem Kalten Krieg 2.0?

Ich denke nicht, dass die Situation mit der im Kalten Krieg vergleichbar ist. Im Kalten Krieg standen sich zwei politische und wirtschaftliche Systeme auf Augenhöhe gegenüber. Das ist diesmal nicht der Fall. Russland ist zwar eine Atommacht, sein Bruttoinlandprodukt ist aber lediglich so gross wie dasjenige von Italien. Zudem: Die Sowjetunion hatte Softpower – die sozialistische Idee war auch für viele Menschen jenseits des eisernen Vorhangs attraktiv. Russland dagegen hat keinerlei Ausstrahlung. Es ist kein Land, das die Menschen anzieht. Wenn, dann gibt es einen Kalten Krieg mit China.

Wie könnte die neue Weltordnung dann aussehen? 

Das hängt viel stärker von China ab als von Russland. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Russland politisch isoliert und wirtschaftlich abgekoppelt wird. Der Krieg in der Ukraine wird das multilaterale System schwächen, aber auch hier gilt: Entscheidend ist China. China hat das multilaterale System in den vergangenen Jahren unterhöhlt, vor allem auch in der Pandemie. China hat nicht transparent über das Virus informiert, deshalb wissen wir ja bis heute nicht, wie die Pandemie genau entstanden ist.

China hat sich im UNO-Sicherheitsrat bei der Abstimmung über die Resolution der Stimme enthalten. Was sagt uns das?

China beobachtet ganz genau, was nun in der Ukraine passiert und wie sich der Westen verhält. Xi Jinping möchte sich ja unbedingt Taiwan einverleiben. Gelingt es dem Westen nicht, Russland wirklich etwas entgegenzusetzen, so wird dies Peking als Aufforderung verstehen, Taiwan anzugreifen. Gleichzeitig ist die Situation nicht ohne Risiko für China. Stellt es sich zu offensichtlich auf die Seite von Putin, und das Ganze geht schief für Russland, würde das auch China schaden. Das erklärt die Enthaltung. 

Das würde heissen, der Ukraine-Krieg ist auch eine Bewährungsprobe für den Westen. Hat er sie bestanden?

Das kann man noch nicht sagen. Ich denke, die Tatsache, dass sich der Westen nun in einem zweiten Anlauf zu gemeinsamen Sanktionen durchgerungen hat, dürfte schon einen gewissen Eindruck machen – nicht nur in Moskau, sondern auch in Peking. 

Gibt es einen Worst Case für den Westen?

Ja. Wenn der Krieg schnell entschieden ist und es Moskau gelingt, innerhalb von kurzer Zeit eine russlandtreue Regierung zu installieren, dann ist es eine grosse Niederlage für den Westen. Das wäre bitter, denn dann würde deutlich, dass die Sanktionen nicht gewirkt haben. Wenn es länger geht und die Sanktionen immer mehr greifen, ist das katastrophal für das russische Regime. Je mehr russische Soldaten sterben, desto grösser wird der Druck auf Putin, den Krieg zu beenden. Und China wird sich nochmals überlegen, ob es sich lohnt, einen Krieg zu riskieren wegen Taiwan.

Sie hoffen auf einen langen Krieg, so schrecklich das klingt?

Das ist in der Tat schwierig, diese Aussage aus der sicheren Schweiz heraus zu machen. Aber ja: Geopolitisch ist es extrem wichtig, dass Putin damit nicht durchkommt. Doch der menschliche Preis wird extrem hoch sein. Je länger der Krieg dauert, desto mehr Menschen sterben und desto grösser wird das Leiden der Zivilbevölkerung. 

Die aktuelle Situation wird immer wieder mit der Kubakrise 1962 verglichen, als die Sowjets vor Kuba Raketen stationieren wollten. Stimmt der Vergleich?

Nicht wirklich. Der Westen hat ja weder Raketen in der Ukraine stationiert noch sonst wie aggressiv aufgerüstet. Das ist ja das Gespenstische an diesem Krieg: Es gibt keinen Anlass. Im Moment steht weder der Nato-Beitritt der Ukraine zur Diskussion, noch hat der Westen Russland irgendeinen Grund gegeben, sich bedroht zu fühlen. Niemand hat die Absicht, Russland zu erobern. Es ist einfach so, dass es in der Ukraine starke Kräfte gibt, die eine Westorientierung wollen – und das ist das Recht eines jeden souveränen Staates. 

Nach dem Ende des Kalten Kriegs glaubte man, wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand würden schon dafür sorgen, dass die Welt friedlicher und demokratischer werde. Ist das Konzept «Wandel durch Handel» gescheitert?

Das glaube ich nicht. Richtig ist, dass es keinen Automatismus gibt. Das zeigt ja das Beispiel von China sehr gut. China hat einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung hinter sich. Trotzdem wird das Land zunehmend eigenwilliger, wenn es um Menschenrechte geht und um seine geopolitischen Interessen. Handel ist keine Garantie für Frieden und Freiheit.

Aber?

Er ist ein Mittel, um gegenseitiges Verständnis zu wecken. Und er schafft Abhängigkeiten. Länder, die miteinander handeln, überlegen es sich schon zweimal, ob sie Krieg gegeneinander führen wollen. Da braucht es schon einen Hasardeur wie Putin, der so etwas macht und der seiner eigenen Bevölkerung so etwas antut.

Was bedeutet der Krieg für die Schweiz?

Ich denke, wir müssen unsere Abhängigkeit vom russischen Gas überdenken und nach Alternativen suchen. Eine gewisse Autarkie ist nötig bei der Energieversorgung. 

Wie wird der Konflikt die Schweiz verändern?

Die Frage der Verteidigung wird sich nochmals neu stellen. Auch die Schweiz hat in den vergangenen Jahren sehr wenig für die Verteidigung ausgegeben. Wir geben weniger als 1 Prozent unseres Bruttoinlandprodukts für Verteidigung aus. Auch wir verlassen uns auf die Nato und den atomaren Schutzschild der Amerikaner. Ich denke, der Druck von aussen wird grösser werden, dass auch wir unseren Beitrag leisten. Und innenpolitisch werden die Leute besser verstehen, dass es wichtig ist, eine funktionsfähige Armee zu haben. 

Der Bundesrat hat entschieden, die Sanktionen der EU vollumfänglich zu übernehmen. Ein richtiger Entscheid?

Ja. Etwas anderes wäre nicht vermittelbar gewesen. Dass ein europäisches Land ein anderes überfällt, haben wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gehabt. Zudem ist es im ureigensten Interesse der Schweiz, dass das Völkerrecht eingehalten wird und dass wir geregelte internationale Beziehungen haben. Gut ist auch, dass der Bundesrat sofort entschieden hat. Die Gefahr, dass man nach einer Woche auf Druck der Amerikaner doch nachgegeben hätte, wäre viel zu gross gewesen.

Wie dramatisch ist es, dass die Schweiz in dieser geopolitischen Situation ihr Verhältnis zu Europa nicht geklärt hat?

Ich glaube nicht, dass das ein Problem ist. Wir werden uns humanitär engagieren – und wir werden, wie alle anderen Schengenländer auch, Flüchtlinge übernehmen. 

Ist es denkbar, dass der Krieg dazu führt, dass man zusammenrückt und dass die Konzessionsbereitschaft auf beiden Seiten steigt?

Das denke ich nicht. Dazu sind die Differenzen zu fundamental. Die EU will eine automatische Übernahme von Recht, und das verträgt sich nicht mit unserem Verständnis von Souveränität und Demokratie.

Bis jetzt konnte sich die Schweiz darauf verlassen, dass sie weltweit Handel treiben konnte und nicht nur in Europa. Könnte sich das ändern?

Das hängt von China ab. Sollte China mit Russland und einigen asiatischen Ländern einen Regionalblock bilden, dann könnte es in der Tat schwierig werden. Dann wäre die russische Krise nur ein Prolog gewesen. Ich denke allerdings nicht, dass China wegen Russland die Globalisierung aufs Spiel setzen wird. China ist verwundbar. Und wir auch. 

Tobias Straumann ist Professor für Geschichte der Neuzeit und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich und eine pointierte Stimme zu Fragen der Schweizer Geschichte. Eben erst hat der 56-Jährige zusammen mit Martin A. Senn, ehemals stellvertretender Chefredaktor der «NZZ am Sonntag» und nun Mitarbeiter des «Nebelspalter» von Markus Somm, ein Buch über den Landesstreik von 1918 veröffentlicht.

Dieses Interview erschien zuerst im Digitalangebot der "Handelszeitung" unter dem Titel: "Die neue Weltordnung hängt viel stärker von China ab als von Russland".