Glaubt man Kommunikationsexperten und anderen selbsternannten westlichen Pundits zur Lage der analogen und digitalen Medien im Reich der Mitte, müssten eigentlich Chinesinnen und Chinesen über nationale und internationale Angelegenheiten schlecht, ja gar bewusst falsch informiert sein. Dem ist aber nicht so. Die ältere und jüngere Generation und zumal die Digital Natives sind bestens informiert. Über offizielle Kanäle, aber auch über politisch weniger korrekte Wege, die trotz maschineller Intelligenz und trotz ausgefeilter Algorithmen immer noch zugänglich sind. Zudem ist eine blühende Wirtschaft, selbst eine "sozialistische Marktwirtschaft mit chinesischen Besonderheiten", ohne einen gewissen Informationsfluss nicht vorstellbar.
Zudem reisen Millionen von Chinesinnen und Chinesen ins Ausland und Millionen studieren in Amerika, Australien oder Europa. Sie sind also global recht gut auf dem Laufenden, ebenso gut jedenfalls wie etwa Schweizer über China und Asien. Es ist übrigens noch keine 30 Jahre her, dass im Westen mit Hinweis auf die universellen Menschenrechte empört Reisefreiheit für alle Chinesen gefordert wurde. Dass Visumvorschriften, zumal in der Schweiz, seither immer strenger und absurder wurden, sei hier nur am Rande vermerkt…
Goldenes Zeitalter?
Als in den 1980er-Jahren der Siegeszug des Internets begann, waren Wissenschaftler und Experten felsenfest davon überzeugt, dass autoritäre Regierungen fortan den Informationsfluss nicht mehr kontrollieren könnten. Das goldene Zeitalter der freien Information schien angebrochen und die Deutungshoheit und der Informationsvorsprung repressiver Regimes vernichtet zu sein. Mit andern Worten, das Internet kann nicht zensiert werden. Analog war das ja möglich, wie das Beispiel mit seiner eingeschränkten Pressefreiheit zeigte und zeigt. Aber das Internet? Wie wir heute wissen, lagen die Experten vor 20, 30 Jahren falsch.
Jene im Westen, die bei Beginn von Chinas Wirtschaftsreformen gemäss der Konvergenztheorie glaubten, dass China sich nach und nach auch politisch und ideologisch liberalisieren werde, sahen sich getäuscht. Damals wie heute werden gewisse Bücher verboten. Zeitungen und Zeitschriften werden ausschliesslich von Regierung und Partei herausgegeben.
Sowohl analoge als auch seit Jahren die digitalen Medien werden mit detaillierten Anweisungen und Vorschriften der zentralen Propaganda-Abteilung der Partei sowie der Cyberspace-Administration von China – der obersten, direkt dem Staatsrat unterstellten Internetbehörde – redigiert und zensuriert. Zu heiklen Themen gibt es detaillierte Anweisungen, ob und falls ja, wie darüber zu berichten sei. Themen also wie Taiwan, Tibet, Tiananmen89, Polizeibrutalität, Demonstrationen, Falun Gong, Gerüchte, Klatsch, Porno, Wohlstandsgefälle oder Lebensmittelskandale.
Das Gute betonen
Im Übrigen gilt für Chinas Journalistinnen und Journalisten die alte konfuzianische Ethikregel, wonach das Gute betont, das Schlechte hingegen hintangestellt werden solle. In den westlichen Medien, für die Ihr Korrespondent arbeitet, gilt dagegen die gegenteilige Regel: Good News is Bad News, das heisst, gute Nachrichten interessieren kaum jemanden, und Bad News is Good News, also Skandale, Katastrophen und dergleichen sind von Interesse.
Chinas Presse und Fernsehen sind dank der Wirtschaftsreformen bunter und lebendiger geworden, weil Eigenwirtschaftlichkeit – mit Ausnahme des Parteiblattes "Renmin Ribao" (Volks-Tageszeitung) und des Staatsfernsehens – nach Reformbeginn zur Pflicht deklariert wurde.
Die Journalisten arbeiten nach "marxistischen Journalisten-Idealen", versuchen hin und wieder die Grenzen auszuweiten. Doch das Risiko ist gross, die Stelle zu verlieren und mithin praktisch ein Berufsverbot auferlegt zu bekommen. Einige Journalisten wurden auch zu Gefängnisstrafen verurteilt. Doch dass China in der Rangliste der Pressefreiheit nach dem Urteil der Reporter ohne Grenzen auf Rang 176 von insgesamt 180 liegt, ist krass übertrieben und wird der Wirklichkeit nicht gerecht.
«Historischer Nihilismus»
Aber die Deutungshoheit lässt sich die allmächtige Kommunistische Partei nicht entreissen. So wurden beispielshalber in einem vertraulichen Papier der Zentralen Parteileitung vor sechs Jahren sieben "falsche ideologische" Trends und Konzepte namhaft gemacht. Das Zentralkomitee warnt so vor "westlichem Verfassungsstaat", "Universellen Werten", "Bürgerbeteiligung", "Neoliberalismus", dem Prinzip des "westlichen Journalismus", vor "historischem Nihilismus" bezüglich vergangenen Fehlern der Partei und vor der "Hinterfragung der chinesischen Reform- und Öffnungspolitik".
Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping wiederholt heute das, was seine Vorgänger Hu Jintao, Zhang Zemin, Zhao Ziyang und Hu Yaobang nach dem Diktum des grossen Revolutionärs und Reformers Deng Xiaoping stets deklarierten: Die chinesischen Medien haben immer und zuerst der Kommunistischen Partei zu dienen. Deng wiederum stützte sich auf Mao Dsedong, der vor Jahrzehnten schon sagte: "In der Partei, der Regierung, der Armee, im Volk, unter Intellektuellen in Ost, West, Süd und Nord sowie im Zentrum leitet die Partei Alles und Jedes".
Zensur im Internet-Zeitalter ist aufwändiger geworden, zumal in einem Land mit über 800 Millionen Nutzern und über einer Milliarde mobiler Telefone. Zig Milliarden Informationen werden über das Netz der Netze gejagt. Täglich. "Es ist nicht möglich", sagte der ehemalige Vorsitzende der staatlichen Internetbehörde, "die enorme Anzahl an Daten zu zensurieren. Zensur ist deshalb das falsche Wort. Aber keine Zensur bedeutet nicht kein Management." Was ohne Internet-Sicherheit auf dem Spiel stehe, meint Parteichef Xi Jinping, sei die nationale Sicherheit. "Wenn wir diese Sicherheit nicht schaffen", fügt Xi hinzu, "dann werden wir langfristig nicht in der Lage sein, die Macht zu erhalten".
Die Grosse Internet-Brandmauer
Zur Aufrechterhaltung der Internet-Sicherheit sind so etwa Youtube, Facebook, Twitter oder Dienste von Google verboten worden. Virtual Private Networks (VPN) sind seit 2017 nur noch schwer zugänglich, allenfalls noch über staatlich lizensierte VPN möglich. Über VPN – über die Regierungs- und Parteibeamte immer noch verfügen können und digital affine Chinesinnen und Chinesen sich Zugriff erzwingen – können verschlüsselte Verbindungen zu einem Server aufgebaut werden, der freien Zugang zum Internet bietet. Die Grosse Chinesische Internet-Brandmauer kann also auch heute noch mit etwas technischem Know-how umgangen werden.
Doch die über 800 Millionen chinesischen Nutzer brauchen das Aussennetz (Waiwang) nicht, denn für die verbotenen westlichen Dienste (Facebook etc.) gibt es mehr als genug einheimischen Ersatz. Deshalb kritisieren westliche Wirtschaftskreise – denen Google, Facebook, Amazon und Konsorten keinerlei Probleme zu stellen scheinen – nicht selten, dass sich im IT-Kommunikationsbereich China einen Wettbewerbsvorteil geschaffen hat.
Für die Google-Suchmaschine gibt es Baidu, für Youtube und Netflix Youku, iQiyi, Tencent Video und Tudo, für Twitter Sina Weibo. Sehr beliebt auch die App WeChat, Facebook inklusive WhatApp und Instagram nachempfunden aber sehr viel besser und vielseitiger, denn mit WeChat kann man chatten, News lesen, mobil bezahlen, Flüge buchen, Behördegänge erledigen und vieles mehr. Schliesslich wird der Google Playstore ersetzt durch die beliebten Apps wie Tencent, Qihoo360, Baidu, Hauwei, Xiaomi, Vivo, Alibaba, Anzhi, 91, Liqu.
«Zunehmend flexibel und raffiniert»
Die Partei kontrolliert mit einigen Zehntausend Zensoren – oft Studenten, die sich ein Zubrot verdienen – die sozialen Medien. Alle Internetfirmen wie etwa Sina, Baidu, Tencent oder Alibaba jedoch verfügen auch über die von der Partei verlangten eigenen Zensur-Teams. Begriffe werden gesperrt für Stunden, Tage, Wochen, Monate oder für immer. Auf den sozialen Medien ist es deshalb interessant zu verfolgen, wie lange politisch inkorrekte Blogs oder Mitteilungen online bleiben. Sehr oft geht das dann nur wenige Minuten, doch die kurze Zeit genügt, um unliebsame Nachrichten, aber auch falsche Informationen und Gerüchte in Windeseile zu verbreiten.
Pornographie ist auf dem Internet verboten, das Verbreiten von "Gerüchten" steht unter strengen Strafen. Auf dem chinesischen Internet gilt die Namenspflicht, wenigstens etwas, das auch westliche Länder – die Schweiz eingeschlossen – nachahmen könnten. Der in den USA forschende chinesische Wissenschafter Xiao Qiang, der mit den von ihm gegründeten "China Digital Times" bei analogen und digitalen Zensurbemühungen der KP Chinas seit 2003 Transparenz herstellt, beurteilt das chinesische Internet-Überwachungssystem als "zunehmend flexibel und raffiniert".
Eine App mit dem Namen "Studiere die Grosse Nation" hat zurzeit gewaltigen Zuspruch. Über 100 Millionen Chinesinnen und Chinesen sind laut offiziellen Medien bereits Nutzer. Die App lobt Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping sowie die Kommunistische Partei über den grünen Klee. Über die App können News, aber auch Videos zu Xi angeklickt werden, zudem sind auch Quizfragen zu einschlägigen parteilichen Themen aufgeschaltet. Das beste dabei: Punkte für den Sozialen Kredit können dabei gewonnen werden. Chinesen und Chinesinnen spielen gern. Und todsicher Punkte gewinnen kann man auf die leichte Art auf der App "Studiere die Grosse Nation".
Die Nutzerzahlen werden, wenn nicht alles täuscht, bald scharf nach oben weisen.
Leseempfehlung: Um mehr über das digital voranstürmende China aber auch um den eigenen, im Westen gehandhabten Umgang mit Daten und dem Internet zu hinterfragen, sei die Lektüre des folgenden Buches empfohlen: «Margaret Roberts – Censored. Distraction and Diversion inside China's Great Firewall.» Princeton University Press, 2018.