Nostalgie für die 1990er Jahre ist überall sichtbar - und doch ganz besonders in Grossbritannien. So eröffnete etwa kürzlich die Bar Bunga 90 in London, ein Lokal ganz im Zeichen der Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit. Der Eingang führt durch eine nachgebaute Videothek im Stil der legendären Blockbuster-Läden, während aus den Lautsprechern Songs von Bands wie den Cranberries dröhnen. Die wiedervereinte Britpop-Band Oasis füllt auf ihrer Welttournee diverse Stadien. Der frühere Vogue-Chefredakteur Edward Enninful kuratiert eine 90er-Jahre- Ausstellung für die Tate Britain, die im kommenden Jahr eröffnet werden soll. Und auf Laufstegen wie in den Länden sind Karoröcke à la Clueless wieder allgegenwärtig.
Die Sehnsucht nach den 1990er Jahren ist kein neues Phänomen. Fachleute verweisen darauf, dass Trends etwa alle 20 Jahre wiederkehren - der Zeitraum, in dem eine Epoche aufhört, wie jüngste Vergangenheit zu wirken, und nostalgische Verklärung einsetzt. So kam das Musical Grease 1978 in die Kinos, spielte aber im Jahr 1958.
Doch mehr als drei Jahrzehnte später prägen die 1990er noch immer massgeblich die Popkultur.
Der letzte Atemzug des analogen Zeitalters
«Die Liebe zu den 90er Jahren hält sich immer noch, zum Teil weil die 90er Jahre der letzte Atemzug eines analogen Zeitalters waren, bevor das Internet jeden Aspekt unseres Lebens ergriffen hat», sagt Lauren Bravo, Autorin von «What Would the Spice Girls Do?». Das Jahrzehnt übe auf jüngere Generationen eine besondere Faszination aus, die sich an eine Welt ohne ständige Online-Verbindung nicht mehr erinnern können. Für jene, die sie noch erlebt haben, sei es, als sehnten sie sich nach einer einfacheren Zeit.
«Ein gutes Beispiel für den aktuellen Trend sind Eltern, die Festnetztelefone in ihren Häusern installieren, damit ihre Teenager ohne Smartphones mit ihren Freunden sprechen können», sagt Bravo. «Das hat enorme praktische Vorteile, aber auch eine ansprechende Retro-Ästhetik für Kinder, die die 90er Jahre für den Höhepunkt der Coolness halten.»
Die Nostalgie-Industrie boomt
Über den Wunsch nach einem analogen Leben hinaus sieht Bravo noch einen weiteren Grund für die anhaltende Faszination: Die 1990er waren das letzte Jahrzehnt, bevor die Welt sich zunehmend bedrohlich anfühlte. Die Berliner Mauer war gefallen, die Apartheid in Südafrika beendet, und in den USA erlebte die Wirtschaft ein Boomjahrzehnt. In Grossbritannien brachte der Labour-Erdrutschsieg von 1997 die Linke erstmals seit 1979 wieder an die Macht. Der Optimismus dieser Zeit endete jäh nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem darauf folgenden Krieg gegen den Terror.
Matthew Pateman, Leiter des Fachbereichs Englisch und Kreative Künste an der Edge Hill University und Autoreines Buches über die Kultserie Buffy the Vampire Slayer (1997–2003), sieht zwei Hauptgründe für die anhaltende Nostalgie. Zum einen seien viele der Menschen, die heute TV-Serien produzieren oder Stadiontouren organisieren, in ihren späten Dreissigern bis Fünfzigern - also jene Generation, die die 1990er aus eigener Erinnerung verklärt.
«Die zynischere Version, ein Beispiel wäre die Oasis-Tour, ist, dass sowohl Künstler als auch Veranstalter, TV-Sender und Streamer erkannt haben, dass die 1990er Jahre gute potenzielle Einnahmen bieten, weil es bewährte Erfolgsgeschichten aus dieser Zeit gibt und man nur daran anknüpfen muss», sagt Pateman. «Es ist wahrscheinlich einfacher, sich ein Reboot von Buffy vorzustellen, als sich auf eine völlig neue Idee einzulassen.» Derzeit entsteht bei Hulu ein neues Buffy-Projekt, dessen Pilotfolge von Oscarpreisträgerin Chloé Zhao inszeniert wird. Auch ein Baywatch-Reboot ist in Arbeit. Beide Produktionen stammen aus den USA, doch laut Pateman ist die 1990er-Nostalgie in Grossbritannien besonders ausgeprägt.
«Es gab eine massive Ausbreitung des Britpop und ein Gefühl kultureller Begeisterung, wobei die Union Flag ein Zeichen echter Einheit war - sei es bei den Spice Girls oder auf David Bowies Mantel im Jahr 1997», sagt Pateman. Letzterer wurde für Bowie vom damals noch recht unbekannten Alexander McQueen entworfen.
Cool Britannia ist tot - lang lebe Cool Britannia
Auch Lauren Bravo, die in Brighton lebt, stimmt zu. «Wir hatten Cool Britannia, einen überwältigenden Labour-Sieg, die Spice Girls und junge britische Künstler, die weltweit bejubelt wurden, und die Stimmung war vom großen Optimismus mit Blick auf die Zukunft geprägt», sagt sie und fügt hinzu, dass dies, soweit sie sich erinnere, das letzte Mal war, dass sich das Land so gefühlt habe.
Auch die Wahl 2024 brachte Labour wieder einen Erdrutschsieg. Doch die Stimmung ist seither rapide schlechter geworden. Laut einer Ipsos-Umfrage ist Keir Starmer der unbeliebteste Premierminister aller Zeiten. Und jene Flagge, die - von Geri Halliwell und David Bowie getragen - noch die Massen begeisterte, lösen nun ganz andere Assoziationen aus: In diesem Sommer war sie ein markantes Erkennungszeichen bei Anti- Einwanderungs-Protesten.
Hinzu kommt, dass sich die wirtschaftliche Lage in Grossbritannien heute grundlegend anders anfühlt - vor allem angesichts steigender Lebenshaltungskosten und stagnierender Löhne. Nach Angaben des britischen Statistikamts kostete der Kauf eines Hauses in London im Jahr 1997, jenem rosig verklärten Cool Britannia-Jahr, das Vierfache des Medianeinkommens. Im Jahr 2024 waren es das 11,06-Fache.
«Die 1990er waren hoffnungsvollere Zeiten. Grossbritannien fühlte sich wie ein grossartiger Ort an. In den vergangenen zehn Jahren, besonders nach dem Brexit, hat unser internationales Ansehen deutlich gelitten», sagt Charlie Gilkes, Mitgründer des Gastronomieunternehmens Inception Group. Gilkes eröffnete im September Bunga 90, ein 90er-Jahre-Bar-, Karaoke- und Pizza- Konzept in der Nähe von Covent Garden in London. Der Veranstaltungsort fasst knapp 300 Gäste.
«Es war die verrückteste Eröffnung, die wir je hatten, was die reine Nachfrage angeht», sagt Gilkes, dessen Unternehmen seit 16 Jahren Bars und Restaurants betreibt. Gilkes sagt, dass die Inception Group bereits im Januar mit der Planung des Konzepts für das Bunga 90 begonnen habe.
«Es gibt Leute in den Dreissigern und Vierzigern, die eindeutig die 1990er Jahre wieder aufleben lassen», sagt er. Das gelte aber auch für Kunden, «die damals noch nicht einmal geboren waren, die es lieben, die Atmosphäre der 1990er Jahre zum ersten Mal zu erleben, und die es wahrscheinlich langweilt, wenn ihre Eltern davon erzählen, wie toll dieses Jahrzehnt war.» Auf der Cocktailkarte stehen 90er-Klassiker wie Appletinis und Cosmopolitans. Bacardi Breezers gehören zu den beliebtesten Bestellungen. Das fruchtige Mischgetränk wurde 1993 in Grossbritannien eingeführt, 2015 eingestellt - und feierte in diesem Sommer ein Comeback.
Die Nostalgie kommt auch online bestens an. «Mir ist die Ironie bewusst, dass die Leute über Instagram von der Bar erfahren - während wir uns gleichzeitig in ein Zeitalter ohne soziale Medien zurückversetzen», sagt Gilkes.
Zu früh für die Nullerjahre
Wann sich der Zeitgeist von den 1990ern zur Indie-Sleaze- Ära der frühen 2000er verschiebt, ist ungewiss. Angesichts der gedrückten Stimmung im Grossbritannien des Jahres 2025 dürfte echte Nostalgie dafür noch eine Weile auf sich warten lassen. Es fühlt sich wohl zu ähnlich an wie damals, zur Finanzkrise der Nullerjahre.
«Vielleicht können wir in fünf oder sechs Jahren mit großer Zugewandtheit auf die Sparmassnahmen Mitte der Nullerjahre zurückblicken», sagt Pateman.
(Bloomberg)