cash.ch: Herr Terwiesch, Sie sind Leiter von Prozessautomation - eine der vier ABB-Divisionen - mit Kunden etwa aus der Minen-, Schifffahrt- oder Ölindustrie. ABB-Antriebssysteme laufen zum Beispiel auf den neuen Schiffen an den Niagara-Fällen oder bei grossen Kreuzschiffen wie «Icon of the Seas». Sind das Prestigeobjekte für Sie?
Peter Terwiesch: Nein, das ist unser Geschäft. Wir ermöglichen unseren Kunden, wettbewerbsfähiger und nachhaltiger zu werden. «Leaner und Cleaner», wie wir in der englischen Version sagen. Das ist das, was wir jeden Tag im Geschäft tun.
Das Kernstück der ABB-Antriebssysteme bei Schiffen sind die Azipods, deren grosse Exemplare hier im ABB Marine House in der Nähe von Helsinki produziert werden. Können Sie etwas über die aktuelle Auftragslage sagen bei den Azipods?
Die Marineindustrie hat gerade in der Kreuzfahrtbranche, die durch Covid recht durchgeschüttelt wurde, einen regelrechten Boom erlebt. Die Marineindustrie hat entsprechend in zusätzliche Kapazitäten investiert und zusätzliche Projekte beauftragt. Das sind Projekte, die dann über Jahre gebaut werden. Wir haben dadurch eine gute Auftragslage in diesem Bereich.
Sie spüren die Kundennachfrage jeweils sehr direkt in Ihrer Division. Wie entwickelt sich die Nachfrage im derzeitigen unsicheren Umfeld - und wie könnte dies in Zukunft aussehen?
Wir haben gerade zum Halbjahr ein Rekordquartal abgeliefert. In der Summe läuft es daher gut, aber gleichzeitig spüren wir durchaus Unterschiede zwischen den verschiedenen Branchen, die wir bedienen. Die veränderte geopolitische Lage der letzten Jahre führt dazu, dass sich Handelsströme verändern, dass die Versorgungssicherheit ein grösseres Thema ist. Und dass Märkte wie zum Beispiel Gas eben nicht nur durch Pipelines, sondern auch durch LNG-Tanker bedient werden, um Versorgungssicherheit in unterschiedlichen Teilen der Welt sicherzustellen. Überlagert über alle Zyklen sehen wir gleichzeitig Elektrifizierung als ein Megatrend. Das ist zwar nicht ganz neu, aber der Megatrend setzt sich mit grosser Geschwindigkeit fortsetzt.
Weshalb?
Weil man über Elektrifizierung, so wie wir das bei unseren Azipod-Antrieben gesehen haben, Energieeffizienzgewinne bis zu 20 Prozent erreichen kann. Das sind dann konkrete Einsparungen in der Treibstoffrechnung. Zudem öffnet Elektrifizierung den Weg für erneuerbare Energien, in der Industrie aber auch in der Schifffahrt, wo im Kurzstreckenbetrieb zunehmend auch batteriebetriebene Fähren, Schlepper und Ausflugsschiffe sehen. Der andere Megatrend ist die Automatisierung. Der Weg in Richtung autonomer Prozesse ist vergleichbar mit der Entwicklung beim Auto: Die Assistenzsysteme werden zunehmend leistungsfähiger, komplexere Aufgaben werden sicherer - und mit besserer Unterstützung wird vieles komfortabler werden. Ein Kranführer mit einem Arbeitsplatz in 50 Meter Höhe zum Beispiel erfährt Hitze, Kälte, Vibrationen. Das sind Arbeitsplätze, die nicht unbedingt für alle attraktiv sind. Wenn man die Arbeit verlagern kann in Kontrollräume, wo allenfalls ein Kranführer oder eine Kranführerin mehrere Anlagen bedienen und unterstützen kann, dann verändert sich das Anforderungsprofil. Das erhöht zugleich die Produktivität, und es macht auch die Arbeitsplätze viel attraktiver.
ABB Process Automation hat am Montag das Joint Venture «Oversea» mit Wallenius Marine bekannt gegeben. Welche Ziele verfolgen Sie damit?
Die Idee von Oversea ist eine Entwicklung, die wir selber zu grossen Teilen innerhalb ABB gemacht haben bei der Digitalisierung zur Unterstützung der Industrien, die wir bedienen - sozusagen oberhalb der Automatisierung. Wir betreiben also Elektrifizierung und Automatisierung, aber wir bieten auch digitale Dienstleistungen an. Spezifisch für die Schifffahrt haben wir uns nun zusammengetan mit Wallenius Marine, einem mittelgrossen Flottenbetreiber. Wir haben anhand von Daten und mit unseren Experten zusammen mit der anders gelagerten Expertise von Wallenius zunächst mal ihre eigene Flotte unterstützt. Das haben wir im Vorlauf zu diesem Joint Venture geübt und eingespielt. Nun wollen wir im Rahmen des Joint Ventures diese Services auch auf andere Betreiber ausweiten.
Die ABB-Turboladersparte wurde im Herbst 2022 unter dem Namen Accelleron abgespalten und ging mit wenig Vorschusslorbeeren an die Börse. Die Sparte lief bei ABB robust, wog dann und wann auch mal aufs Ergebnis. Die Aktie von Accelleron ist nun innerhalb von nicht einmal drei Jahren von 18 Franken bis fast 80 Franken gestiegen. Hat man rückblickend etwas falsch gemacht bei der damaligen ABB-Turboladersparte?
Wir sind nach wie vor davon überzeugt, dass es richtig war, Accelleron an die Börse gebracht zu haben. Accelleron war vorher die ertragsstärkste Division, die Process Automation hatte. Wir hatten einfach festgestellt, dass die gemeinsamen technologischen Synergien und Marktsynergien nicht genug Grund waren, das Geschäft im Konzern weiterzuführen. Wir sind stolz darauf zu sehen, wie gut sich Acceleron entwickelt hat. Wir sind ebenfalls stolz zu sehen, wie sich Process Automation ohne dieses lang angestammte, traditionelle Turbolader-Geschäft entwickelt hat.
Die geopolitische Situation hat sich dramatisch verändert. Werden Ihre Produkte aus sicherheitsrelevanter Sicht deswegen mehr nachgefragt?
Das ist nicht der Haupttreiber für unsere Produkte. Es sind die zwei schon angesprochenen Megatrends Elektrifizierung und Automatisierung. Die verstärkte Nutzung der künstlichen Intelligenz und der damit einhergende Boom beim Bau neuer Rechnezentren erhöhen den Strombedarf einerseits massiv. Da spielen wir eine grosse Rolle, vor allem aus dem Elektrifizierungsgeschäft. Als Process Automation, auf der anderen Seite, setzen wir auch künstliche Intelligenz ein, um unseren Kunden bessere Lösungen zu bieten.
Ihre Produkte scheinen aus sicherheitsrelevanter Sicht hochsensibel. Wie schützen Sie sich gegen Attacken jeglicher Art, die ja laufend zunehmen?
Man muss immer zwischen einer physischen und digitalen Sicherheit unterscheiden. Wir sind besonders aktiv in der digitalen Sicherheit. Wenn Sie an Prozessanlagen denken oder an Schiffe: Das sind heute typischerweise vernetzte Anlagen. Da stellt sich die Frage: Wie hält man das cybersicher? Jede Vernetzung ist immer auch eine potenzielle Angriffsfläche. Das Ganze ist ein Wettlauf, und wir unterstützen unsere Kunden dabei, ihre Anlagen so modern auf dem Stand zu halten, dass eine grösstmögliche Sicherheit resultiert.
Welche Themen werden momentan im Top-Management von ABB am meisten diskutiert?
Wir beschäftigen uns immer kurzfristig mit der Performance wie auch mittel- und langfristig mit der Strategiefrage. Und da ist es natürlich immer spannend, die richtige Tarierung zu finden zwischen Wachstum und Profitabilität. Wachstum, Profitabilität, Kapitalintensität - das sind alles Stellschrauben, an denen man drehen kann, aber sie sind nicht komplett unabhängig voneinander
Wie beurteilt man im Top-Management die weltwirtschaftliche Lage?
Ich schaue zunächst immer, wie es meinen Kunden geht wie auch unseren Mitarbeitern, und welche Beiträge wir leisten können. Wir haben eine Situation, in der die eine oder andere grössere Investition vielleicht mit etwas Verzögerung stattfindet. Auf der anderen Seite haben wir bei Process Automation nun einen Auftragsbestand, der so hoch ist wie nie zuvor. Wir haben zum Halbjahr eine Performance abgeliefert, die so hoch ist wie nie zuvor. Wir sind in einer Situation, in der wir ruhig und besonnen handeln können. Es gibt jede Menge Chancen, auch in diesem durchaus turbulenteren Umfeld.
Peter Terwiesch (Jahrgang 1966) ist Chef des ABB-Geschäftsbereiches «Process Automation» und Mitglied des Top-Managements des Technologiekonzerns. Er ist seit 1994 bei ABB beschäftigt und hält einen Doktortitel in Elektrotechnik der ETH Zürich. Terwiesch, der die schweizerische und die deutsche Staatsbürgerschaft hält, ist Verwaltungsrat bei Hilti und hatte die gleiche Position bei Metall Zug von 2010 bis 2022.
Das Interview entstand im Rahmen einer Medienreise, zu der ABB nach Finnland eingeladen hatte.
Das Schiffsantriebssystem «Azipod» von ABB bei der Fertigung.
«Azipod» bei der Fertigung im ABB Marine House in der Nähe von Helsinki, Finnland.
«Azipod» bei der Fertigung im ABB Marine House in der Nähe von Helsinki, Finnland.