Ein unter liberianischer Flagge fahrender Öltanker verlässt im Mai den russischen Hafen Ust-Luga unweit der Grenze zu Estland mit Fahrtrichtung Indien. An Bord befinden sich 100.000 Tonnen Rohöl, das die Leopard I im Auftrag einer wenig bekannten Handelsgesellschaft mit Sitz in Hongkong transportiert. Noch bevor das Schiff seinen Bestimmungsort auf dem Subkontinent erreicht, wechselt die Ladung den Besitzer. Der neue Eigentümer der Fracht ist nach Angaben von zwei Händlern eine ähnlich unbekannte Firma namens Guron Trading, ebenfalls mit Sitz in Hongkong.

Nachdem die Europäische Union Öl-Sanktionen gegen Russland wegen des Kriegs in der Ukraine verhängt hatte, beendeten Branchengrößen wie BP oder Shell ihre jahrzehntelangen Geschäfte mit russischen Produzenten. An ihre Stelle traten eine ganze Reihe wenig bekannter Handelsfirmen, die in den letzten Monaten wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Die Nachrichtenagentur Reuters konnte mindestens 40 Zwischenhändler identifizieren, die zwischen März und Juni den Handel mit russischem Öl abgewickelt haben - darunter auch Unternehmen, die zuvor noch nie in diesem Geschäft tätig waren. Dies geht aus einer Reuters-Zählung nach Gesprächen mit zehn Händlern sowie Analysten des Think-Tanks Kpler hervor, in die auch Refinitiv-Daten und Angaben aus nicht-öffentlichen Dokumenten von Reedereien einflossen.

Neue Player im Ölgeschäft

Nach Inkrafttreten der Sanktionen baute Russland als einer der drei größten Erdölproduzenten der Welt binnen kurzer Zeit neue Handelswege für sein Rohöl auf. Im Mai erzielte das Land dank Lieferungen an China und Indien neue Rekorde im Öl-Export. Die beiden Staaten haben keine Sanktionen gegen Moskau verhängt und gehören mittlerweile zu den wichtigsten Abnehmern von russischem Öl. Eine Schlüsselrolle bei der Aufrechterhaltung und Umleitung der russischen Erdölexporte spielen die neuen Akteure im Ölhandel. In diesem Jahr verschifften sie Reuters-Berechnungen zufolge mindestens die Hälfte der gesamten russischen Rohöl- und Raffinerieexporte von durchschnittlich sechs bis acht Millionen Barrel. Das macht die wenig bekannten Firmen zusammengenommen zu einem der größten Ölhändler der Welt.

Zu den wichtigsten Öl-Käufern der russischen Konzerne Rosneft, Surgutneftegaz und Gazprom Neft gehörten von März bis Juni die Händler Petroruss mit Sitz in Dubai, Guron Trading, Bellatrix Energy und Covart Energy mit Sitz in Hongkong, die in Dubai registrierten Voliton, Demex Trading, Nestor Trading und Orion Energy sowie Patera mit Sitz in Singapur. Keines der Unternehmen war für eine Stellungnahme erreichbar und Reuters konnte die Eigentümer nicht ermitteln.

Einige Firmen wie beispielsweise Coral Energy und Everest Energy, die im vergangenen Jahr als wichtige Händler von russischem Öl aufgetreten waren, haben sich inzwischen aus dem Geschäft zurückgezogen. Ein Öl-Käufer vergleicht den Aufstieg und Fall der neuen Händler mit den kurzen Karrieren von TikTok-Stars. Ein anderer Händler sprach von einem "Kaleidoskop" neuer Akteure. In manchen Fällen durchläuft eine einzige Ladung mindestens drei Händler, sagte der Experte. Zuvor hatte in der Regel ein einziger bekannter Händler die Ölladungen von der Quelle bis zum Zielort abgewickelt.

Solche Mehrfachgeschäfte auf See sind nach Angaben von Marktkennern inzwischen weit verbreitet. Die Deals werden kaum öffentlich dokumentiert und zielen darauf ab, die Nachverfolgung der russischen Ölexporte zu erschweren. Es gibt bisher keinen Hinweis darauf, dass die Geschäfte gegen die Sanktionen verstoßen, aber sie erschweren es den zuständigen Behörden in Europa und den USA, russische Öltransaktionen und Preise nachzuverfolgen.

Risiken für russische Exporteure 

Allerdings bringen die neuen Praktiken und das neue Handelsnetz nicht nur Vorteile für Russland mit sich. Sie erhöhen die finanziellen Risiken für russische Ölgesellschaften, die mit unbekannten Unternehmen mit begrenzter Kredithistorie zu tun haben. Venezuela etwa, das ein ähnliches System für den Öltransport einsetzt, hat mit Zahlungsproblemen, Betrug und Verlusten zu kämpfen.

Zwar gäbe es noch keine Berichte über Zahlungsausfälle, wie fünf Ölhändler sagten. Doch Verzögerungen hätten einige Probleme verursacht. So warteten die russischen Exporteure zwischen drei und fünf Monate auf ihre Bezahlung. Normalerweise zahlten die Käufer für die Ladungen etwa einen Monat nach dem Auslaufen des Schiffes. Nun müssten die Exporteure teilweise Steuern an den russischen Staat abführen, bevor sie überhaupt für ihr Öl bezahlt worden seien, erzählte ein Händler.

Ein Insider bei einer großen russischen Ölgesellschaft sagte jedoch, dass sein Unternehmen bereit sei, höhere Kreditrisiken in Kauf zu nehmen, um stabile und steigende Ölexporte zu erzielen: "Letztes Jahr waren wir mit Produktionskürzungen konfrontiert, weil der Handel schlecht war. Jetzt ist alles in Ordnung - wir haben Käufer, wir haben Verkäufe". 

(Reuters)