Die rechtspopulistische Partei AfD hat sich in den Umfragen zur zweitstärksten Kraft hochgearbeitet, aber nun übernehmen sie erstmals Regierungsverantwortung - wenn auch nur in einem Landkreis mit 48'300 Wahlberechtigten. Experten warnen davor, nun die falschen Schlüsse zu ziehen: "Das eigentliche Problem sind die anderen Parteien", analysiert der Chef des Meinungsforschungsinstitus Forsa, Manfred Güllner. Mehrere Umfragen zeigen, dass vor allem das Heizungsgesetz, Migration und der Krieg in der Ukraine für Ärger und Ängste sorgen.
Selbstkritische Stimmen aus der Ampelregierung
Immerhin mischen sich selbstkritische Momente in die Ratlosigkeit der Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP beim Versuch, den steten Aufstieg der Protestpartei AfD in den vergangenen Monaten zu erklären: SPD-Chef Lars Klingbeil räumte ein, dass der AfD-Aufschwung "natürlich" auch etwas mit dem wochenlangen Streit über das Heizungsgesetz zu tun habe.
SPD-Co-Chefin Esken sagte, das Heizungsgesetz der Ampel sei "nicht nur schlecht erklärt, sondern auch schlecht organisiert" gewesen. Und die Grünen-Co-Vorsitzende Ricarda Lang fordert mehr Geschlossenheit. Die Regierungskoalition müsse den Menschen mehr Sicherheit geben. Das Problem für die Ampel: Die Unsicherheit für die Bürger, wer etwa bei der Wärmewende nun wie gefordert ist und gefördert wird, wird noch eine ganze Weile andauern. Und auf die Zahl der ankommenden Asylbewerber hat sie nur begrenzt Einfluss.
Gegenseitige Vorwürfe
Zwar rief Lang dazu auf, dass sich die Parteien an einen Tisch setzen sollten, um über einen gemeinsamen Kampf gegen Rechtsextremismus zu reden. Zwar lobte Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), dass die CDU in seinem Land die Brandmauern zur AfD klar einhalte. Aber bald überwogen die gegenseitigen Mahnungen: Esken forderte CDU-Chef Friedrich Merz auf, auf den "rechtspopulistischen Kulturkampf" zu verzichten, der nur der AfD nutze. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) warnte auf Twitter, die AfD werde immer dann stark, wenn in der Mitte der Gesellschaft "rechte Themen" hochgepeitscht würden - auch das zielt auf die Union, teilweise auf die FDP.
In der Union wirft man dagegen SPD, Grünen und FDP im Bund vor, die Menschen mit einer falschen Politik bei der Energiewende und Migration zu verärgern. "Es hat vor allem eine Regierung in der Hand, dass sich Protest nicht radikalisiert", betont Merz. Mit der AfD werde man nicht zusammenarbeiten. Man werde aber noch viel deutlicher die Alternativen herausarbeiten - vor allem zur Ampel-Regierung. Die Grünen seien für die Polarisierung in der Energiepolitik in der Gesellschaft verantwortlich. Das Problem für die CDU: Sie regiert in vielen Bundesländern mit den Grünen. Im Bund muss die CDU Opposition wie die AfD machen, ohne deren Jargon zu übernehmen.
Umfragen zeigen, dass nur eine Minderheit potenzieller AfD-Wähler diese Präferenz aus politischer Überzeugung angibt, sondern eher als Denkzettel versteht. Forsa-Chef Güllner sieht die Gründe für die Stärke der AfD deshalb in der Schwäche der Volksparteien. CDU und SPD stellten sich falsch auf: "Die SPD ist vielen Arbeitnehmern zu grün und zu links, die CDU hat das Problem Friedrich Merz", sagt er und verweist auf die geringe persönliche Akzeptanz des CDU-Chefs. Letztlich sei die AfD nur der Resonanzboden für die Unzufriedenheit mit anderen Parteien.
"Wir haben die Leute teilweise verloren", sagt auch Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) bei RTL/ntv. Als Beispiel nennt Maier das 49-Euro-Ticket für Bus und Bahn, das den Menschen zumindest in Thüringen wenig nutze. "Die Leute sind weiterhin auf ihr Auto angewiesen. Gleichzeitig hieß es aber, der Verbrennungsmotor steht vor dem Aus." Teure E-Autos könne sich kaum jemand leisten. Wirklich gefährlich werde es, wenn sich der Frust festsetze, warnt der Forsa-Chef. "Wir beobachten, dass derzeit die Nichtwähler vor allem aus der politischen Mitte kommen." Wenn sich die Frustrierten politisch heimatlos fühlten, könnten sie irgendwann aus dem Nichtwähler-Lager zur AfD stoßen.
«Normalisierungstrend» der AfD
Nach Meinung der Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach von der FU Berlin steckt die AfD durch ihren Höhenflug in einer Phase der Normalisierung. Ein Landrat bewegt zwar nur einen sehr kleinen Teil Deutschlands - aber die anderen Parteien im thüringischen Sonneberg werden künftig mit ihm zusammenarbeiten müssen. "Der Wahlsieg hat deshalb einen hohen symbolischen Wert für die AfD", sagt Reuschenbach zu Reuters. "Dass sie gerade in dem Bundesland mit dem rechtsextremsten Landesverband der Partei erstmals in Verantwortung kommt, ist aus Sicht der AfD strategisch wertvoll."
Es sei bekannt, dass die Übernahme von Ämtern ein Türöffner sein kann, um die Normalisierung im Image einer Partei voranzutreiben, warnt Reuschenbach. In Frankreich hatte die rechtsradikale frühere Front Nationale zunächst ebenfalls auf Lokalebene Posten errungen. Nun will die AfD sogar einen Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl aufstellen. Aus Sicht des Verfassungsschutzes ist die AfD alles andere als "normal". Er hat ihre Jugendorganisation als "gesichert rechtsextrem" eingestuft. Die Partei selbst gilt als "rechtsextremer Verdachtsfall". "Die Dämonisierung, die Ausgrenzung funktioniert aber nicht mehr", jubelt dagegen die AfD-Bundestagsabgeordnete Beatrix von Storch in einem Interview mit Reuters-TV.
Dazu kommt in Thüringen ein Sonderproblem mit Linksaußen: Das Image der Linken als DDR-Nostalgie- und Protestpartei zieht seit dem Amtsantritt von Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) nicht mehr. Die AfD im Land nährt nun den Eindruck, sie kämpfe als Einzige gegen die "System-Parteien". Weil die AfD laut Forsa im Schnitt in den ostdeutschen Bundesländern mittlerweile mit 32 Prozent klar an der Spitze liegt, wird die Nervosität bis zu den Landtagswahlen 2024 in Sachsen, Thüringen und Brandenburg weiter steigen. Sollte die Stärke der AfD anhalten, kann die Regierungsbildung dort sehr schwierig werden.
(Reuters)
1 Kommentar
Inhaltlich besteht die AfD aus zwei Parteien: einer freiheitlich-konservativ-marktwirtschaftlichen auf der einen Seite und einer sozialdemokratischen, staatspaternalistischen auf der anderen. Bei Themen wie Euro oder Asyl gehen beide Teile vielleicht zusammen. Aber spätestens bei der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik liegen die Differenzen offen zutage. Politik bedeutet Kommpromissfindung. Wenn die Partei sich diszipliniert und aufhört auf jede Provokation des politischen Gegners zu reagieren und selbst zu provozieren, steht dem Erfolg eigentlich nichts im Wege.