Plus 22 Prozent auf Jahressicht ist der breite US-Index S&P 500 in die Höhe gestiegen. Vom Allzeithoch von Mitte Februar ist der Vorzeigeindex mit den 500 grössten börsennotierten US-Unternehmen weniger als 100 Punkte entfernt. Die Konjunkturlage scheint stabil, die Wahrscheinlichkeit einer Rezession sinkt in der Öffentlichkeit. Mehr noch: Der Markt erwartet gemessen am FedWatch Tool der CME Group, dass die US-Notenbank die Leitzinsen 2024 um 100 Basispunkte senken wird.

Doch aufgepasst: Auch in der aktuellen Marktlage, wo unter anderem die Inflation, die Rezessionsrisiken oder der Ukraine-Krieg in den Hintergrund gerückt sind, lauern zahlreiche Gefahren. Es droht kein abrupter Absturz an den Börsen, aber Entwicklungen oder Ereignisse, die manche Anleger wohl auf dem falschen Fuss erwischen könnte. cash.ch sieht diese sieben potenzielle Szenarien:

Erste Gefahr - Wachstumsverlangsamung in den USA

«Dass die globale Konjunktur derzeit auf sehr wackligen Beinen steht, zeigen die jüngsten BIP-Zahlen in Japan und Grossbritannien. Beide Volkswirtschaften befinden sich in einer technischen Rezession. Die Eurozone befindet sich am Rande einer solchen», sagt Matthias Geissbühler, Anlagechef bei Raiffeisen, gegenüber cash.ch. Noch halten sich die USA sehr robust. Allerdings deuten die Detailhandelsumsätze vom Januar sowie die jüngsten Arbeitsmarktdaten auf eine Abschwächung hin. Das starke zweite Halbjahr 2023 war in den USA zudem von einem nicht nachhaltigen Lageraufbau geprägt. 

Der Aufschwung an den Aktienbörsen wird nicht zuletzt von der überraschend robusten US-Wirtschaft getragen, was weltweit für positive Impulse sorgt. Damit verbunden sind optimistische Gewinnschätzungen für US-Unternehmen - beim S&P500 wird ein durchschnittlicher Gewinnanstieg von jeweils plus 10 Prozent in 2024 und 2025 unterstellt. Hohe Erwartungen gibt es auch betreffend internationaler Konzerne aus Europa und Asien.

Bantleon-Chefökonom Daniel Hartmann geht davon aus, dass sich das Wachstum in den USA im Laufe des Jahres verlangsamt und dabei deutlich unter die Potenzialrate von 2 Prozent sinkt. «Ein Abgleiten in die Rezession ist nicht mehr unser Hauptszenario, aber nach wie vor möglich», warnt Hartmann zudem. Denn die Bremseffekte aus den gestiegenen Zinsen seien in der Wirtschaft noch nicht vollständig verdaut. Gleichzeitig lasse der Rückenwind aus den vergangenen Fiskalimpulsen nach. 

Mit einem schwächer werdenden Wachstum in den USA müssten auch die Gewinnschätzungen nach unten wandern. «Wir rechnen daher bis zum Jahresende 2024 mit einem namhaften Rücksetzer an den globalen Aktienmärkten», so der Bantleon-Chefökonom. Unter einer solchen konjunkturellen Verlangsamung würden vor allem zyklische Aktien leiden - dazu gehören Banken-, Industrie-, Energie-, Technologie- und Luxustitel. Relativ besser schneiden defensive Titel ab - Gesundheit, Basiskonsum, Versorger, Telekommunikation und Infrastruktur.

Hohe Eintretenswahrscheinlichkeit

Zweite Gefahr - Rückkehr der Inflationsgefahren

Das gegenteilige Szenario, wo sich die US-Wirtschaft als widerstandsfähiger erweist - Expansion von 2 bis 3 Prozent - als gedacht, bringt ebenfalls Risiken für den Aktienmarkt mit sich. Denn der Arbeitsmarkt würde als Folge als Folge weiter auf hohen Touren laufen und das Lohnwachstum mit gleichbleibender Geschwindigkeit weitergehen. Die Konsequenz daraus wären neue Inflationsgefahren. Und der entlastende Basiseffekt im Energiebereich läuft im April aus. «Bleibt der Ölpreis nur schon auf dem aktuellen Niveau, wirkt sich dieser in den (Früh-)Sommermonaten bereits wieder inflationär aus», so Geissbühler. 

«Die Teuerungsraten dürften mithin wieder nach oben drehen, noch bevor sie 2 Prozent erreicht haben. In diesem Fall wird die Fed die Leitzinsen nicht oder nur geringfügig senken», so Hartmann. Für die Aktienmärkte wäre ein solches enttäuschendes Szenario, wo die Staatsanleihen-Renditen wieder anziehen würden, ungünstiges. Steigende Renditen würden die relative Attraktivität von Dividendenpapiere mindern und vor allem Wachstumsaktien belasten. Relativ besser wurden Value-Aktien abschneiden beziehungsweise Unternehmen mit hoher Preissetzungsmacht.

Kleine bis mittlere Eintrittswahrscheinlichkeit

Dritte Gefahr -  Finanzmarktschock

Die Niveauverschiebung bei den Renditen weg vom Nullzinsumfeld dürfte an der Finanzwelt nicht spurlos vorbeigehen. Speziell solche Geschäftsmodelle, die auf einem dauerhaften Niedrigzinsumfeld aufgebaut wurden, sollten in den nächsten Jahren weiter unter Druck stehen. Die Krise bei den amerikanischen Regionalbanken im März 2023 ist ein Beispiel dafür. Und die aktuelle Krise bei US-Gewerbeimmobilien besitzt wohl zumindest das Potenzial, sich noch stärker auszuweiten. 

Jüngst machte die Meldung die Runde, dass das Verhältnis aus Rückstellungen zu faulen Gewerbeimmobilienkrediten bei einigen grossen US-Banken unter eins gefallen ist. Käme ein Finanzmarktschock zum Tragen, würde die Weltwirtschaft erheblich ins Straucheln geraten. Verlierer wären natürlich in erster Linie Bankaktien, aber auch alle anderen zyklischen Aktien. Von Kreditausfällen wegen dem Preiseinbruch bei US-Gewerbeimmobilien, aber auch starke Preisrückgänge in gewissen europäischen Staaten wie Deutschland sind nicht nur die regulierten Banken, sondern auch Schattenbanken betroffen. Bei letzteren sind die Strukturen oft undurchsichtig, was laut Raiffeisen-Anlagechef auch hier zu negativen Überraschungen führen kann.

Mittlere Eintrittswahrscheinlichkeit

Vierte Gefahr - Energiepreisschock

Nachdem bereits der Ukraine-Krieg die Rohstoffmärkte stark durchgeschüttelt hat, besitzt der für die Energiepreise doch bedeutende Konflikt im Nahen Osten das Potenzial sich weiter auszuweiten – auf den Libanon, Ägypten, Iran oder Jemen. Dies würde die Versorgungsrouten - Strasse von Hormus - für den Transport fossiler Brennträger blockieren beziehungswise generell das Rohöl-Angebot beschneiden. In Anbetracht dessen könnte der Ölpreis laut dem Bantleon-Chefökonomen auf über 100 Dollar pro Barrel schnellen, was einen weiteren Inflationsschock zur Folge hätte und vermutlich die Weltwirtschaft in die Knie zwingen würde. 

«Mit einer Eskalation im Nahen Osten einhergehend wäre ein erneuter Anstieg der Inflation. Dadurch würde der Spielraum der Notenbanken für grössere Zinssenkungen zu Nichte gemacht», warnt Geissbühler. Wiederum würden darunter hauptsächlich zyklische Aktien leiden - speziell Titel aus dem Industrie- und Technologiesektor. Ausnahme wären Energie- und Grundstoff-Aktien, die sich dann als grosser Gewinner entpuppen könnten. Auch Gold dürfte von dieser Entwicklung profitieren.

Kleine bis mittlere Eintrittswahrscheinlichkeit

Fünfte Gefahr -  Wahlen in den USA

Laut einer jüngsten YouGov-Umfrage zu den US-Präsidentschaftswahlen 2024 werden sich Präsident Biden und Ex-Präsident Trump ein Kopf an Kopf liefern. Der Republikaner könnte aus heutiger Sicht gut in das Weisse Haus einziehen. Grundsätzlich gilt das Sprichwort: «Politische Börsen haben kurze Beine». «Der Impact von Wahlen wird in der Regel überbewertet. Im Falle der USA besteht aber das Risiko, dass bei einem sehr engen Wahlausgang, das Endergebnis auf sich warten lässt beziehungsweise angefochten wird. Eine längere Phase von Unsicherheit könnte zu Verunsicherung an den Aktienmärkten führen», argumentiert Geissbühler.

«Ob Trump oder Biden die US-Präsidentschaftswahl gewinnt, macht wahrscheinlich keinen grossen Unterschied für die Finanzmärkte. Beide haben mit Blick auf die Wirtschaftsaussichten ihre Vor- und Nachteile», sagt Hartmann. Bei einem Trump-Sieg würde wahrscheinlich die Aussicht auf weitere Steuersenkungen und Deregulierungen die US-Märkte stimulieren. Umgekehrt würden sein erratischer Politikstil und die Drohung mit Zöllen zur weltweiten Verunsicherung beitragen. So oder so könnten US-Aktien temporäre Gewinner eines Trump-Siegs sein – speziell aus den Bereichen der fossilen Energieträger, der Banken und der Rüstungsindustrie. Verlierer wären wohl europäische Aktien und Unternehmen aus dem Bereich der erneuerbaren Energien. 

«Keiner der beiden Kandidaten Biden und Trump tritt für einen konservativen finanzpolitischen Kurs ein. Da das Haushaltsdefizit in den USA weiterhin gross ist, könnte die Frage der Schuldentragfähigkeit dazu führen, dass die Anleger eine höhere Kompensation in Form von höheren Renditen verlangen», wendet Mathieu Racheter, Leiter Aktien-Research bei der Bank Julius Bär, auf Anfrage von cash.ch ein. Dies würde zinssensitive Sektoren - Wachstumssektor, und auch sogenannte «bond proxies» - überdurchschnittlich beeinflussen. Kurz vor den Wahlen, wenn die Versprechen der Kandidaten konkreter werden und danach, wenn sie ihr Programm vorstellen respektive neue Ausgaben verabschiedet werden, droht eine höhere Volatilität.

Hohe Eintrittswahrscheinlichkeit

Sechste Gefahr - Eskalation im Taiwan-Konflikt

«China hat klar den Plan, bis spätestens 2049 - 100-Jahr-Jubiläum der Volksrepublik - Taiwan zu integrieren. Wenn dies nicht auf einem friedlichen, freiwilligen Weg geschieht, muss früher oder später mit einem militärischen Konflikt gerechnet werden», sagt Geissbühler. Da der Zeithorizont aber extrem lang ist, kann dieses Risiko nicht sinnvoll in einer Anlagetaktik abgebildet werden. Derzeit gibt es wenig Zeichen für eine baldige Eskalation - das Thema sollte laut dem Anlagechef von Raiffeisen aber auf dem Radar bleiben. Denn der negative Impact auf die Finanzmärkte wäre massiv.

Kleine Eintrittswahrscheinlichkeit

Siebte Gefahr -  Enttäuschung bei den hochgeschossenen Wetten auf die Künstliche Intelligenz

Die Aktien von Nvidia sind auf Jahressicht 237 Prozent in die Höhe geschossen, Microsoft steht 61 Prozent höher und der US-Technologieindex Nasdaq 100 hat in derselben Zeitperiode 48 Prozent zugelegt. «Angesichts der hohen Erwartungen der Anleger und der Marktkonzentration auf die KI-Enablers würde jede Enttäuschung zu einer Korrektur führen, insbesondere an den US-Aktienmärkten», warnt Racheter von der Bank Julius Bär.

Mittlere Eintrittswahrscheinlichkeit

ManuelBoeck
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