Olaf Scholz ist ein Meister darin, ein Pokergesicht aufzuziehen. Als ihn die Grünen-Fraktionschefin Terry Reintke bei seinem Besuch im Europäischen Parlament in scharfer Form persönlich angreift und ihm Führungsschwäche und Verrat an politischen Versprechen vorwirft, sitzt der Bundeskanzler mit unbewegtem Gesicht auf seinem Platz. Nur einen Tag später bemüht er dasselbe Pokerface, als neben ihm Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst die gerade von ihm gelobten Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz zu Flüchtlingen als "nur zweitbeste Lösung" herunterredet.

Egal, ob in Europa oder Berlin: Nicht nur die Ampel-Regierung, sondern auch Scholz selbst bekommt immer stärker Gegenwind zu spüren. Die Grünen werfen ihm vor, zu sehr Positionen der FDP zu unterstützen. EU-Diplomaten beklagen, dass Deutschland unter seiner Führung weniger berechenbar sei. "Und Scholz muss erkennen, dass er auch als Kanzler an vielen Stellen Prozesse nicht steuern kann", meint der Berliner Politologe Gero Neugebauer. "Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was Wähler erwarten und dem, was er tut - oder tun kann." Das färbt auf seine Umfragewerte ab. Laut Forsa attestiert ihm eine Mehrheit mittlerweile Führungsschwäche.

Vergleich zu Merkel

Nun musste sich auch seine Vorgängerin Angela Merkel oft vorhalten lassen, sie zögere, zaudere, sitze zuviel Konflikt einfach aus. Genau genommen verhindert das deutsche politische System mit der Machtteilung und dem ständigen Zwang zu Kompromissen, dass es überhaupt einen von vielen erträumten "Basta"-Kanzler geben kann. "Aber bei Scholz wirken die Widersprüche stärker", meint Neugebauer. Angesichts der Vielzahl der Krisen könne er diese nicht aussitzen. Und er erkläre für Deutschland zwar eine Führungsrolle in der EU, könne dann aber oft nicht liefern, meint der Politologe.

Das sieht Forsa-Chef Güllner ähnlich. "In der Ukraine-Debatte findet eine Mehrheit der Bürger seine abwartende Haltung etwa bei Waffenlieferungen ja völlig richtig", sagt er zu Reuters. Aber etwa in der Energiekrise weiche Scholz zu sehr aus. "Das Heizungsthema Wirtschaftsminister Robert Habeck zu überlassen, ist falsch", meint er. Gerade in einer Frage, die zig Millionen Bürger berühre, erwarte man eine Führung des Kanzlers.

Aber Scholz ist in eine schwierige Koalition eingebunden, in der er sowohl die FDP, die Grünen als auch seine eigene Partei bei Laune halten muss. Beim Gebäudeenergiegesetz (GEG) führt dies dazu, dass die Regierung letztlich den Ampel-Fraktionen die Klärung wichtiger Fragen wie der milliardenschweren Förderung überlässt, weil sie sich nicht einigen konnte. Der Kanzler kann keine Regelung anordnen - und vermeidet das Thema deshalb eher.

Kontrollverlust

Und beim Flüchtlingsgipfel mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten war durch den Widerstand der FDP von Anfang an klar, dass Scholz überhaupt keinen Spielraum für weitere Geldüberweisungen ab 2024 hatte. Dazu kommt, dass die Länder Geld mit dem Hinweis fordern, dass der Bund ja für die Steuerung des Zuzugs von Flüchtlingen verantwortlich sei. Dabei wissen sie, dass Scholz in der EU-Debatte über einen Aussengrenzschutz und über die Rücknahme und Verteilung von Flüchtlingen auf den guten Willen der anderen Staaten angewiesen ist. "Aber der Kanzler kann schlecht öffentlich sagen, dass er keine Kontrolle hat", heisst es in Regierungskreisen. Auch für die von ihm so vehement vorgeschlagenen Migrationsabkommen mit Herkunftsstaaten Geflüchteter gibt es letztlich keine Garantie für ein Zustandekommen.

Dazu kommt, dass ihm in der EU schon in seiner kurzen Amtszeit immer wieder enge Partner abhandengekommen sind. Anfangs versuchte Scholz neben Frankreich vor allem engen Kontakt mit den sozialdemokratischen Regierungschefinnen und Chefs zu pflegen. Aber in Schweden und Finnland sind diese mittlerweile abgewählt, in Spanien und Portugal stehen sie massiv unter Druck. "Er hat wohl nicht so ein enges Netzwerk wie Merkel", merkte vor kurzem ein EU-Diplomat an. Das mag nicht fair sein, weil Merkel am Ende 16 Jahre lange ihre Netze pflegen konnte. Aber obwohl Scholz nun schon eine zweite Europa-Rede gehalten hat, werde er nicht als Visionär gesehen, meint auch Politologe Neugebauer. Im Umfeld von Scholz wird darauf verwiesen, dass der SPD-Politiker sogar sehr klare Vorstellungen habe, wo er hin wolle - sowohl in der EU als auch für Deutschland. Aber offenbar dringt dies nicht durch.

Dabei bleibt auch dem wohl mächtigsten Politiker in Europa eben nur, für seine Positionen zu werben. Das gilt auch für seine Bemühungen um neue Partner im globalen Süden - von denen Länder wie Südafrika dann aber trotzdem Militärmanöver mit Russland und China abhalten.

Das Problem: Wenn Scholz es Partnern auf der einen Ebene recht machen will, bekommt er wie in der Debatte um das Aus des Verbrenner-Motors sofort ein neues Problem auf einer anderen Ebene wie der EU. Am Dienstag musste der Kanzler dann auch noch seinen Besuch im Europaparlament in Strassburg verkürzen, weil er wegen des Flüchtlingsgipfels unbedingt in der SPD-Bundestagsfraktion auftreten sollte und wollte.

Dumm für Scholz: Nutzt der Kanzler dann doch einmal seine Richtlinienkompetenz wie etwa bei der endgültigen Erlaubnis zum Einstieg der chinesischen Staatsreederei Cosco in eine Betreibergesellschaft im Hamburger Hafen, dann steht er auch nicht als strahlender Entscheider da. Nur eine Stunde später meldete sein Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) Kritik an der Entscheidung an. 

(Reuters)