cash.ch: Die Volatilität bei den Zinsen ist enorm, die Gefahr einer US-Rezession ist gestiegen. Kommt der erwartete Wirtschaftsabschwung nun tatsächlich?

Anastossios Frangulidis: Die Rezessionsrisiken haben in den USA deutlich zugenommen. Dies aus zwei Gründen: Einerseits wird die Profitabilität bei kleineren und mittelgrossen Banken als Folge des Abflusses von Kundengeldern leiden, was zu wiederum zu einem reduzierten Kreditangebot führen wird. Zudem wird die Stimmung bei den Konsumenten und Unternehmen also den Kunden der Banken schlechter werden. Sie werden ihre Überschussersparnisse weniger stark ausgeben beziehungsweise bei Ihren Investitionen zurückhaltender werden. Wir befinden uns insofern am Rande einer Rezession. Die nächsten drei Quartale erwarten wir bestenfalls ein Nullwachstum in den USA.

Das heisst, der Zins-Höhepunkt ist in den USA erreicht?

Wir sind praktisch dort. Vorderhand besteht aber noch eine Restwahrscheinlichkeit, dass die Fed Anfang Mai den Zinssatz noch einmal um 0,25 Prozent erhöht. Der Fed-Vorsitzende Jerome Powell hat dies bereits signalisiert. Aus meiner Sicht ist das dann definitiv die letzte Erhöhung.

Die Zinskurve in den USA signalisiert, dass die Fed den Leitzinssatz bis zum Jahresende deutlich senken wird. Stimmt die Prognose des Marktes?

Die Märkte preisen bereits jetzt eine Zinssenkung des Fed von 50 Basispunkten zum Jahresende hin und mehr als 100 weitere Punkte im Jahr 2024 ein. Wären wir nicht in einem inflationären Umfeld, hätte die Fed die Zinsen schon längst gesenkt, um der sich eintrübenden Konjunkturentwicklung entgegen zu wirken. In den letzten 35 Jahren hat das Fed die Zinsen immer gesenkt, wenn der 'Conference Board Leading Economic Index' gegenüber dem Vorjahreswert rückläufig war, wie dies aktuell der Fall ist. Jetzt erfolgt aber keine Zinssenkung, weil die Kerninflation immer noch bei 5,5 Prozent liegt. Deshalb ist es durchaus möglich, dass es länger als von den Märkten erhofft dauert, bis die Fed mit Zinssenkungen tatsächlich beginnen wird.     

Wann dürfte die erste Leitzinssenkung erfolgen?

Ich gehe nicht davon aus, dass dies in den nächsten Monaten der Fall sein wird. Dass die erste Zinssenkung später als von den Märkten prognostiziert kommen wird, ist dem Umstand geschuldet, dass die Fed im Moment reaktiv und nicht proaktiv agiert. Deshalb dürfte die US-Notenbank abwarten, bis sich die Konjunktur weiter abkühlt und die Inflation weiter zurückgeht. 

Welche Folgen hat diese für die Aktienmärkte?

Die Aktienmärkte haben eine Wirtschaftsverlangsamung bereits eingepreist. Die Gewinnschätzungen wurden seit Juli 2022 laufend nach unten angepasst. Sie sind heute für das nächste Jahr immer noch etwas zu hoch, aber sie sind immerhin näher an der Realität. Insofern dürfte der Anpassungsprozess bei den Gewinnschätzungen wegen der anstehenden Konjunkturverschlechterung zwar nicht mehr so gross, aber nicht ganz abgeschlossen sein. 

Sollte die Zinssenkung tatsächlich kommen Ende Jahr. Spräche dies schon jetzt für Aktienengagements?

Kurzfristig ist immer noch Vorsicht angebracht. Erst wenn sich die US-Wirtschaft verlangsamt, dürfte die Fed den Zinssenkungsprozess tatsächlich einleiten. Das heisst, dass es zuerst noch etwas mehr Druck auf die Gewinnschätzungen geben dürfte, ehe die Bewertungen sich dann mit der Zinssenkung entsprechend wieder erhöhen dürften. Kurzfristig bleibt es deshalb ein schwieriges Umfeld. 

Wie sieht es auf einen Zeithorizont von zwei Jahren aus?

Für diesen Zeitraum bin ich optimistisch. Wegen der vorhin erwähnten Unsicherheiten bleibt es aber schwierig, den genauen Einstiegspunkt in die Aktien zu timen. Es braucht da noch mehr Transparenz, wie sich die starken Zinserhöhungen der letzten 12 Monate auf die Wirtschaftsentwicklung auswirken.  

Zinssenkungen bedeuten, dass jetzt in Wachstums- statt in Value-Aktien investiert werden sollte?

Die Wachstumstitel haben sich tatsächlich im Sog der sinkenden Obligationenrenditen seit Anfang Jahr sehr gut entwickelt. Im letzten Jahr waren Anlegerinnen und Anleger dagegen mit Value-Aktien besser aufgehoben. Das Zinsniveau dürfte über die nächsten Quartale rückläufig sein. Auf einen Zeithorizont von zwei Jahren sind Wachstumstitel ein gutes Investment. 

Anastassios Frangulidis ist Leiter Multi Asset Schweiz und Chefstratege bei Pictet Asset Management in Zürich.

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