In der Rohstoffindustrie bahnt sich möglicherweise ein Milliardendeal an: Adnoc, der staatliche Ölkonzern der Vereinigten Arabischen Emirate, ist laut Bloomberg offenbar daran interessiert, den Genfer Rohstoffhändler Gunvor zu übernehmen oder zumindest Teile des Handelshauses zu kaufen. Demnach haben die beiden Unternehmen erste Gespräche geführt.

Konkret ist der Verkauf noch nicht. Auch eine mögliche Bewertung steht noch nicht im Raum. Gunvor selbst gibt den Wert des Eigenkapitals in der Bilanz mit 4 Milliarden Dollar an. Sowohl der Ölkonzern als auch der Genfer Händler lehnten gegenüber Bloomberg eine Stellungnahme zu den Gesprächen ab.

Zusätzliches Eigenkapital gesucht

Gunvor-Chef Torbjörn Törnqvist, der fast 90 Prozent des Unternehmens kontrolliert, denkt jedoch schon seit einiger Zeit über einen Verkauf nach. 2019 führte er erfolglose Gespräche mit dem staatlichen algerischen Energieunternehmen Sonatrach. Zudem hat Törnqvist in der Vergangenheit mögliche Zusammenschlüsse mit anderen Rohstoffhändlern abgeklärt. 

Auf einer Konferenz der "Financial Times" führte Törnqvist im vergangenen März aus, dass er den Verkauf von gewissen Gunvor-Geschäftsbereichen in Erwägung ziehen würde, um das Unternehmenswachstum zu finanzieren. "Damit wir das Potenzial des Unternehmens wirklich ausschöpfen können, wäre es wünschenswert, zusätzliches Eigenkapital zu suchen", sagte er damals. Gunvor sei offen für eine Allianz. 

Rohstoffhändler wandern in den Nahen Osten ab

Eine Investition in Gunvor würde in die neue Strategie des staatlichen Ölproduzenten der Emirate passen. Dieser will seine Einnahmequellen diversifizieren und seine Handelsabteilung ausbauen. Dafür hat Adnoc vor zwei Jahren einen eigenen Handelszweig gegründet. Seitdem hat der Vorstandsvorsitzende Sultan Ahmed Al Jaber wiederholt betont, dass er die Gewinnspannen durch Investitionen ins Raffinerie- und Handelsgeschäft verbessern wolle. 

Staatliche Unternehmen aus dem Nahen Osten gehörten in den letzten Jahren zu den aktivsten Investoren in Rohstoffhandelsunternehmen. Die ADQ aus Abu Dhabi kaufte im vergangenen Jahr 45 Prozent des Agrarrohstoffhändlers Louis Dreyfus und der Staatsfonds von Katar ist einer der grössten Aktionäre von Glencore

Dazu sind die drei grössten russischen Ölproduzenten dabei, Dubai für ihre Handelsaktivitäten zu evaluieren. Und mehrere andere Firmen haben sich bereits dorthin verlagert. Der Grund: Dubai hat keine Sanktionen gegen Russland verhängt, während die Schweiz – seit Jahrzehnten die Heimat von Rohstoffhändlern – die Restriktionen des Westens übernommen hat. 

Ein russischer Geschäftsmann ist Mitgründer von Gunvor

Die Sanktionen könnten auch der Auslöser für die Gespräche zwischen Adnoc und Gunvor sein. Schliesslich hat der Rohstoffhändler einen starken russischen Ursprung. Törnqvist gründete Gunvor im Jahr 2000 zusammen mit dem Geschäftsmann Gennadi Timtschenko, einem Russen. Dieser verkaufte seine Anteile am Unternehmen jedoch 2014 an seinen Geschäftspartner und verliess Gunvor – kurz bevor die US-Regierung Timtschenko wegen angeblicher Verbindungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin sanktionierte.

Gunvor hat sich in den letzten Jahren jedoch vom russischen Ölhandel etwas entkoppelt, indem sich das Unternehmen zu einem der weltweit grössten Händler von verflüssigtem Erdgas entwickelt hat. In den letzten fünf Jahren machten Rohstoffe russischen Ursprungs nur noch 6 bis 11 Prozent der Handelsaktivitäten von Gunvor aus.

2021 stieg das Handelsvolumen von Gunvor um 25 Prozent auf 240 Millionen Tonnen, der Umsatz wuchs auf über 123 Milliarden Franken an. Damit war der Genfer Händler im vergangenen Jahr das drittgrösste Unternehmen der Schweiz. 

Der Start in dieses Jahr war sogar noch besser: In den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 erzielte Gunvor einen Nettogewinn von 841 Millionen Dollar. Die hohe Volatilität auf den Öl- und Erdgasmärkten nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine hat das Geschäft des Rohstoffhändlers begünstigt.

(mth)

Dieser Artikel erschien zuerst im Digitalangebot der „Handelszeitung“ unter dem Titel: "Araber greifen nach Genfer Rohstoffhändler Gunvor"