Der "Erlkönig" ist ein extrem scheuer Vertreter der Autobranche. Versteckt unter schwarz-weisser Tarnfolie oder Plastikteilen meidet der Prototyp eines geplanten Modells nach Möglichkeit Kameras und Scheinwerferlicht, wenn er Testrunden dreht. Künftig könnte er noch seltener gesichtet werden. Denn die Pkw-Hersteller verlegen Entwicklung und Erprobung zunehmend von der realen Welt in den Rechner.

"Immer stärker werden virtuelle Modelle und Designs und virtuelle Tests angewendet", erläutert Armin Schulz von der Innovationsberatung 3DSE. "Das erhöht enorm die Geschwindigkeit und bringt die Kosten nach unten." Je nach Produkt bringe die Digitalisierung kräftigen Schub: "Die Zeit von der Idee bis zur Serienreife kann um 30 bis 50 Prozent verkürzt werden."

Sieben Jahre galten lange als Faustregel für den Entwicklungszeitraum, bis ein neues Pkw-Modell in den Handel kam. Doch wachsende Märkte rund um die Welt, bessere technologische Möglichkeiten, ausgefeiltere Baukästen und härtere Konkurrenz liessen die Autobauer immer mehr Gas geben. "Die Modellvielfalt ist in den vergangenen Jahren explodiert", sagt Klaus Schmitz von der Beratungsfirma Arthur D. Little. "Das wäre nicht möglich gewesen ohne digitalisierte Forschung und Entwicklung." Für Modellüberarbeitungen, sogenannte Facelifts, wird ein Zyklus von drei bis vier Jahren veranschlagt. Doch der innovationshungrigen Kundschaft, verwöhnt von laufenden Aktualisierungen beim Smartphone, geht das nicht schnell genug. "Wenn Sie heute ein Auto kaufen, haben Sie die IT von gestern drin", sagt Axel Schmidt von Accenture.

Neue Autos lassen sich updaten

Für Abhilfe können schnellere Aktualisierungen der Elektronik via Internet sorgen, sogenannte over-the-air-updates. Tesla, Mercedes oder BMW bieten dies bereits an, Audi zieht jetzt mit dem elektrischen e-tron nach. "Man hat immer die neueste Version der Karte, des Unterhaltungsangebots, der Motor- und Getriebesteuerung", erläutert Autoexperte Schmidt. Was Forscher und Entwickler Tag für Tag Neues austüfteln, kann nicht nur in Autos aufgespielt werden, die vor der Markteinführung stehen, sondern laufend auch in Fahrzeuge einfliessen, die schon auf der Strasse sind. "Man ist nicht mehr auf die Meilensteine 'Modelleinführung' und 'Facelift' angewiesen."

Schnellere Innovationszyklen zwingen die Hersteller dazu, mehr wie Technologiekonzerne vorzugehen. "Die IT wird zum Kern des Geschäfts", schreiben die Experten von PwC in einer Studie. In der Praxis bedeutet das für die wachsenden IT-Abteilungen: Statt alle paar Jahre neue Software zu entwickeln und die Vorgängerversionen mehr oder weniger wegzuschmeissen, geht es inzwischen um schnelle, oft kleine, aber kontinuierliche Schritte, gern gemeinsam mit externen Partnern. Alle paar Tage wird bei sogenannten Sprints überprüft, ob Weg und Ziel richtig sind - Fehler ausdrücklich erwünscht. Mit agilen Methoden könne die Software-Entwicklung um 30 Prozent effizienter werden, in bestimmten Fällen sogar mehr, sagt Branchenexperte Schmitz.

Prototypen teuer, aber weiter nötig

Permanentes Testen und Lernen wird auch dank Technologien wie Virtual Reality (VR) oder künstlicher Intelligenz (KI) einfacher. Zu den seit Jahrzehnten üblichen Programmen für computerunterstützte Konstruktion (CAD) haben sich interaktive Visualisierungssysteme gesellt, die an Bildschirmwänden oder in dreidimensionalen Projektionsräumen, genannt Cave, neue Modelle mit all ihren Details zeigen. Veränderungen lassen sich virtuell einfügen und überprüfen. Schaltung oder Fahrverhalten können die Forscher im Simulator physisch erleben, ohne ein Versuchsfahrzeug bauen zu müssen. "Prototypen sind enorm teuer", erläutert Digitalisierungsexperte Schulz. "Die Autobauer geben dafür einen hohen dreistelligen Millionenbetrag pro Jahr aus."

Die Devise der digitalen Forschung und Entwicklung lautet: weniger Hardware, mehr Simulation. Führend ist hier die Luftfahrtbranche, sagt Schulz. "Die Autoindustrie holt stark auf, auch weil die Menge an Testkilometern nicht mehr gefahren werden kann." 250 Millionen unfallfrei zurückgelegte Kilometer sollen etwa den Nachweis erbringen, dass ein autonomes Auto sicher ist. Weil dies für Testflotten unschaffbar scheint, finden rund 95 Prozent davon virtuell statt. Am Computer lassen sich zudem circa zwei Millionen verschiedene Verkehrsszenarien simulieren - pro Tag.

Aber auch wenn ein Grossteil der Entwicklung und Probefahrten in den PC verlegt werden kann, braucht es laut Experten auch in Zukunft Prototypen, etwa um physikalische Wechselwirkungen wie Windgeräusche zu untersuchen. Schmidt sagt: "Man muss auch mal ein Auto zu Testzwecken kaputtfahren." 

(Reuters)