Zittern, Muskelsteifheit und der fortschreitende Verlust der Kontrolle über den eigenen Körper – für Millionen Parkinson-Patienten ist das Alltag. Eine Heilung gibt es bislang nicht, bestehende Medikamente lindern nur die Symptome. Bayer will mit einer riskanten Wette diesen potenziellen Milliardenmarkt mit neuartigen Zell- und Gentherapien erschliessen. Denn während die Pioniere dieser Technologien bereits Umsätze mit der Behandlung von Krebs oder seltenen Erbkrankheiten erzielen, betritt Bayer Neuland. Damit ist der Konzern zwar Vorreiter im Bereich Parkinson, doch der Weg zur Marktreife ist lang und der Ausgang ungewiss.

Bayer steht im Pharmageschäft unter Druck. Die Patente für die bisherigen Kassenschlager, den Gerinnungshemmer Xarelto und das Augenmittel Eylea, sind ausgelaufen. Damit fallen beträchtliche Umsätze weg. Bill Anderson, seit Juni 2023 an der Spitze des Konzerns, hatte die Erneuerung der Pharma-Pipeline als eine der grössten Herausforderungen für Bayer identifiziert. Investoren fordern von dem früheren Pharma-Chef des Schweizer Roche-Konzerns Erfolge in diesem Geschäft, nachdem der hochgehandelte Gerinnungshemmer und potenzielle Xarelto-Nachfolger Asundexian Ende 2023 floppte. «Bill Anderson kommt aus dem Pharmageschäft. Es ist an der Zeit, dass er in seiner Paradedisziplin nach mehr als zwei Jahren endlich punktet», sagt Ingo Speich von der Fondsgesellschaft Deka Investment. Bayer komme in der Pharmasparte zu langsam voran. «Die Pipeline ist interessant, aber mit grossen Unsicherheiten behaftet.»

Pharma-Forschungschef Christian Rommel ist zuversichtlich: «Den Effekt gegenwärtiger Patentabläufe haben wir durch die Einführung neuer potenzieller Blockbuster-Produkte bereits adressiert», sagt er der Nachrichtenagentur Reuters mit Blick auf das Krebsmittel Nubeqa und das Nierenmedikament Kerendia.

Hoffnung aus dem Labor

Eine zentrale Hoffnung ruht auf dem Feld der Zell- und Gentherapien, für das Bayer sich mit den Übernahmen der US-Firmen BlueRock 2019 und AskBio 2020 gezielt Know-how eingekauft hat. Am weitesten fortgeschritten ist die Zelltherapie Bemdaneprocel von BlueRock. Mit dem Start der zulassungsrelevanten Phase-3-Studie – der ersten dieser Art bei Parkinson – hat Bayer einen wichtigen Meilenstein erreicht.

Der medizinische Bedarf ist enorm: Parkinson ist nach Alzheimer die zweithäufigste neurodegenerative Erkrankung, in Deutschland sind rund 400.000 Menschen betroffen. Weltweit dürfte die Zahl der Patienten bis 2050 von mehr als zehn auf gut 25 Millionen steigen. «Der Bedarf an krankheitsmodifizierenden Therapien gehört zu den grössten ungedeckten medizinischen Bedürfnissen in diesem Bereich», urteilt Christie Wong, Analystin bei GlobalData. Das Analysehaus erwartet, dass der Markt für Parkinsonmedikamente in den sieben wichtigsten Märkten bis 2033 auf sieben Milliarden Dollar wächst. Das wäre fast eine Verdopplung innerhalb von zehn Jahren.

Bei Bemdaneprocel werden aus menschlichen embryonalen Stammzellen gewonnene Nerven-Vorläuferzellen ins Gehirn transplantiert, die die dopaminproduzierenden Neuronen ersetzen sollen, welche bei Parkinson verloren gehen. «Wir glauben, dass unsere Behandlungen das Fortschreiten der Erkrankung stoppen und sie möglicherweise rückgängig machen können», sagt Rommel. Dies könne Menschen mit Parkinson helfen, «die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen». Bayer räumt zwar ein, dass es sich um eine riskante Technologie handelt. Pharmachef Stefan Oelrich betont allerdings, in der vorangegangenen, kleineren Studie habe es bei den Patienten über einen Zeitraum von drei Jahren keine Probleme wie etwa unerwünschtes Zellwachstum gegeben.

Von den laut GlobalData derzeit 17 Zelltherapien gegen Parkinson in klinischer Entwicklung ist Bemdaneprocel am weitesten fortgeschritten. Konkurrenz kommt unter anderem von der kalifornischen Biotechfirma Aspen Neuroscience mit einer Zelltherapie auf Basis patienteneigener Stammzellen, die sich in einer Phase-1/2a-Studie befindet. Forscher der Universität Kyoto haben zudem eine klinische Phase-1/2-Studie mit Spender-Stammzellen abgeschlossen.

Die Bayer-Tochter AskBio entwickelt parallel Gentherapien, die Gendefekte direkt im Körper korrigieren sollen. Die am weitesten fortgeschrittenen Projekte befinden sich in der zweiten von drei klinischen Phasen: neben dem Kandidaten AB-1005 gegen Parkinson auch ein Mittel gegen Herzinsuffizienz. Die sieben Projekte im Bereich der Zell- und Gentherapien machen damit gut 20 Prozent der gesamten Pipeline aus.

Investoren sehe hohe Hürden

Doch die Wette ist riskant. «Die Zell- und Gentherapien von Bayer spielen wegen des hohen Entwicklungsrisikos derzeit keine Rolle bei der Bewertung des Konzerns», sagt Fondsmanager Markus Manns von der Fondsgesellschaft Union Investment. «Die Parkinson-Pipeline ist zwar vielversprechend, aber mit erheblichen Unsicherheiten behaftet.» Besonders das Projekt Bemdaneprocel sei komplex, weil es eine Stammzelltransplantation ins Gehirn erfordere und das Immunsystem ein Jahr lang unterdrückt werden müsse.

Im Vergleich zur Konkurrenz ist Bayer bei diesen neuartigen Therapien insgesamt Nachzügler. Wettbewerber haben bereits Zell- und Gentherapien auf dem Markt, etwa gegen Blutkrebs oder seltene Erbkrankheiten wie Zolgensma von Novartis oder Casgevy von Vertex. Laut Daten des Marktforschungs- und Analyseunternehmens IQVIA sollen zu den mehr als 80 bereits weltweit auf den Markt gebrachten Zell- und Gentherapien (CGT) bis 2029 voraussichtlich 20 bis 25 weitere hinzukommen. GlobalData prognostiziert für den weltweiten CGT-Markt einen Anstieg der Umsätze von 8,3 Milliarden Dollar 2024 auf 71,7 Milliarden Dollar bis zum Jahr 2030.

Die Herstellung von Zell- und Gentherapien ist technologisch anspruchsvoll und teuer – was sich in den hohen Therapiepreisen widerspiegelt. Zolgensma galt mit rund zwei Millionen Euro lange als teuerste Therapie der Welt, wurde inzwischen aber von Hemgenix gegen Hämophilie B übertroffen. «Die Herstellung von Zell- und Gentherapieprodukten ist nicht nur eine Wissenschaft, es ist ein ganz besonderes Know-how», sagt Oelrich. Mit AskBio übernahm Bayer auch den spanischen Produktionsspezialisten Viralgen - eine führende Plattform für Gentherapien. Für Zelltherapien investierte der Konzern 2023 rund 250 Millionen Dollar in eine neue Anlage im kalifornischen Berkeley.

Für Bayer ist der Ausgang der Phase-III-Studie mit Bemdaneprocel, die mehrere Jahre dauern wird, der Lackmustest. Die Rekrutierung der Patienten soll bis Ende 2026 abgeschlossen sein, sagt Oelrich. Nach einer Behandlungsdauer von 18 Monaten rechne er «um 2028, 2029 herum» mit Ergebnissen. Bei einem starken Effekt hoffe man auf eine schnelle Zulassung. «Sollte das Projekt erfolgreich sein, könnte es die Behandlung von Parkinson revolutionieren», sagt Manns von Union Investment. Gelingt der Durchbruch, winkt Bayer die Führung in einem neuen Milliardenmarkt. Scheitert die Wette, wäre erneut ein zentraler Hoffnungsträger verloren. Bayer brauche dringend Erfolge im Pharmabereich, sagt Deka-Experte Speich, «um die Enttäuschungen der Vergangenheit abzulegen und wieder Vertrauen am Kapitalmarkt aufzubauen.»

(Reuters)