Die hart erkämpfte Einigung in Berlin am Mittwoch löst nur eine unmittelbare Herausforderung für das wirtschaftliche Schwergewicht der Europäischen Union. Die im Vergleich zu anderen wohlhabenden Ländern soliden Staatsfinanzen wurden durch eine Vernachlässigung der öffentlichen Investitionen erkauft.
Dutzende von Milliarden Euro an Ausgaben für die Energiewende und die Infrastruktur sind nun bedroht, nachdem das Karlsruher Schock-Urteil der Nebenhaushalts-Praxis der Koalition den Boden entzogen hat. Ohne die geplanten Mittelzuweisungen könnte das regierungsseitige Bemühen, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu stärken und ein spürbares Wachstum zu erzielen, auf Jahre hinaus beeinträchtigt werden.
Schuldenbremse steht im Mittelpunkt
Eine Reform der Schuldenbremse, die im Mittelpunkt des Streits steht, wird wahrscheinlich letztlich von den Wählern entschieden werden müssen. Vorerst setzen Scholz, sein Vize Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner auf einen schlankeren Staat, indem sie die Ausgaben im nächsten Jahr um 30 Milliarden Euro kürzen.
«Angesichts der prekären Lage zumindest von Teilen unserer Industrie und erheblicher Lücken bei den öffentlichen Investitionen könnte diese Sparpolitik ernsthaften Schaden anrichten», sagte Philippa Sigl-Glöckner, eine ehemalige Beamtin des Finanzministeriums, die das Dezernat Zukunft, eine in Berlin ansässige Forschungsgruppe, leitet. «Man kann nur hoffen, dass die deutsche Debatte in der Realität ankommt, bevor es zu spät ist.»
Sigl-Glöckner beklagt, dass das Festhalten des Landes an Finanzdisziplin, das 2009 mit der Schuldenbremse verankert wurde und sich oft in ausgeglichenen Haushalten mit der sogenannten «schwarzen Null» manifestiert, die Wirtschaft hat verkümmern lassen.
Deutschland ist das einzige G7-Mitglied mit einer Verschuldung von weit unter 100 Prozent der Wirtschaftsleistung und einer Reihe von Top-Bonitätsbeurteilungen, die durch das untermauert werden, was Scope Ratings als eine «starke Erfolgsbilanz der Haushaltsdisziplin» beschreibt. Scope geht jedoch auch davon aus, dass die Unterinvestitionen in den letzten zehn Jahren im Vergleich zu Volkswirtschaften mit ähnlichen Ratings sich auf 300 Milliarden Euro belaufen.
Deutsche Bahn gerät ins Hintertreffen
Belege für diese Diskrepanz sind nicht schwer zu finden. Im letzten Monat erreichte nur einer von zwei Fernzügen sein Ziel pünktlich. Die Mobilfunknetze des Landes sind oft lückenhaft, und die Digitalisierung schreitet nur langsam voran.
Im MD World Competitiveness Yearbook rutschte Deutschland in diesem Jahr um sieben Plätze auf Rang 22 ab und schnitt in den Kategorien Regierungs- und Unternehmenseffizienz noch schlechter ab. Die Schüler haben im internationalen PISA-Test schlechter abgeschnitten als je zuvor, was auch die Defizite im Bildungsbereich unterstreicht.
Während Bürokratie und Ineffizienz nicht gerade hilfreich sind, ist Geldmangel ein entscheidendes Hindernis. Eine kürzlich durchgeführte Studie bezifferte die Kosten für die Instandhaltung und den Ausbau des kommunalen Strassen- und Schienennetzes auf 372 Milliarden Euro.
Die von der Regierung gesetzte Priorität für den Klimawandel erfordert noch mehr Mittel. Die staatliche Förderbank KfW schätzt, dass für die Erreichung der Klimaneutralität bis 2045 öffentliche Investitionen in Höhe von knapp 500 Milliarden Euro erforderlich sind - das sind etwa 20 Milliarden Euro pro Jahr. Mehr als die Hälfte der Kommunen, die für einen grossen Teil des Investitionsstaus im Land verantwortlich sind, sagen, dass sie finanziell nicht in der Lage sind, mehr auszugeben.
Derweil könnte es enorme Vorteile bringen, mehr zu investieren. Martin Ademmer von Bloomberg Economics schätzt, dass allein eine Annäherung an die durchschnittliche Ausgabenquote der G7-Staaten die Wirtschaftsleistung bis 2050 um fast 2 Prozent steigern könnte.
«Gezielte höhere öffentliche Investitionen geben dem Bruttoinlandsprodukt langfristig einen Schub», sagte er. «Sie sind dringend notwendig, denn die schrumpfende Erwerbsbevölkerung wird im kommenden Jahrzehnt zu einem Wachstumsrückgang führen, und die Herausforderungen der wirtschaftlichen Transformation in Richtung Klimaneutralität stellen ein beträchtliches Abwärtsrisiko dar.»
Die Methode der Regierung zur Lösung dieses Problems bestand darin, die Ausgaben über sogenannte Sondervermögen zu leiten, die nicht Teil des Bundeshaushalts waren. Das war bis zum Urteil des Verfassungsgerichts im letzten Monat so.
Krise verschärft sich
Scholz und seine Ampel-Kollegen fanden sich in einer Krise wieder, als sie sich bemühten, die Haushaltspläne für dieses und das nächste Jahr neu zu kalibrieren. Und anders als 2023, als die Energieknappheit zum Vorwand wurde, die Schuldenbremse auszusetzen, wird dies 2024 nicht der Fall sein - was Kürzungen bedeutet.
Der Bundeskanzler betont, dass «deutlich weniger Geld» zur Verfügung zu haben, nichts an der Entschlossenheit seiner Regierung ändere, den Klimaschutz zu stärken und den sozialen Zusammenhalt zu verbessern. Doch Siegfried Russwurm, Präsident des Industrieverbands BDI, warnte vor «schwerwiegenden Auswirkungen», die die Erholung der Wirtschaft behindern würden.
Für Jasmin Gröschl, Senior Economist bei der Allianz, könnte die Fiskalpolitik nun zu einer «grossen Wachstumsbremse» werden. Sie prognostiziert ein Wachstum von nur 0,5 Prozent im nächsten Jahr - etwas mehr als die Hälfte der 0,9 Prozent, die der Internationale Währungsfonds vor dem Gerichtsurteil vorausgesagt hatte - und sieht auch das Risiko eines Rückgangs, wenn die Regierung den Ausgabenbedarf unterschätzt.
Die grössere Frage für die Zukunft ist, wie und ob die politische Klasse Deutschlands die Schuldenbremse, die die Nettoneuverschuldung auf 0,35 Prozent des BIP pro Jahr begrenzt, neu gestalten kann. Sie ist zwar streng, aber wohl weniger streng als die Regel des ausgeglichenen Haushalts im Nachbarland Schweiz.
Ohne CDU läuft nichts bei der Schuldenbremse
Jede Änderung würde eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erfordern - unmöglich ohne die Unterstützung der Opposition in Gestalt der Unionsparteien, die in den Umfragen vorne liegen und versuchen, von der misslichen Lage der Koalition zu profitieren. Selbst innerhalb der Regierung ist man sich nicht einig, wie man weiter vorgehen soll. Die Sozialdemokraten und die Grünen sind für eine Lockerung der Regelung, während Lindner und seine Freien Demokraten viel politisches Kapital in die Beibehaltung der Regelung investiert haben.
Ein Argument für die Beibehaltung der Bremse ist, dass sie fiskalische Reserven für Krisenzeiten schafft, wovon Europa in den letzten Jahren oft profitiert hat. Lindners engster Berater, der Ökonom Lars Feld, ist ebenfalls der Meinung, dass die Unternehmen die Investitionen tätigen und der Staat dies durch die Erhöhung seiner Verschuldung nicht verdrängen sollten. Er befürwortet stattdessen Strukturreformen.
«Eine bessere Gesetzgebung kann die bürokratischen Kosten senken, die derzeit das Haupthindernis für die Investitionstätigkeit sind», sagte er gegenüber Bloomberg. «Auch die Unternehmenssteuern sollten gesenkt werden.» Sigl-Glöckner entgegnet, dass die jüngste Haushaltsvereinbarung der Regierung zeige, dass sie sich auf einem schädlichen Sparkurs befinde, der sogar noch weiter gehe, als es nötig sei.
Die Haushaltskürzung sei «weder gesetzlich vorgeschrieben noch wirtschaftlich sinnvoll», sagte sie. «Das sieht für mich aus wie die Rückkehr ins Mittelalter - zur Ideologie der ‘schwarzen Null’.»
(Bloomberg)