Die Liste der fehlenden Produkte und Substanzen, die von spezialisierten Websites erfasst wird, ist lang. Ob auf drugshortage.ch, der Plattform für Medikamentenengpässe des Genfer Universitätsspitals (HUG), der Online-Apotheke Zur Rose oder der Liste des Bundesamtes für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) - die Situation ist sehr angespannt.

So listet drugshortage.ch 786 fehlende Produkte auf, darunter 360 Wirkstoffe. Amoxicillin (Antibiotika), Injektionslösung für Diabetiker (Ozempic), Impfungen für Kinder oder gegen Tollwut, Beruhigungsmittel wie Benzodiazepine, Schmerzmittel - es mangelt an vielem.

«Wir haben zwei Personen, die sich Vollzeit damit beschäftigen, nach Alternativen zu suchen, um Lieferengpässe zu überbrücken. Die Situation betrifft alle Medikamentenklassen», sagte HUG-Chefapotheker Pascal Bonnabry der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.

Er spricht von einer «beunruhigenden» Entwicklung, die das ganze Land betreffe. «Seit dem letzten Winter, der besonders schwierig war, hat sich die Situation auf einem hohen Niveau (der Knappheit) stabilisiert», fügt Bonnabry hinzu. Insgesamt habe sich die Situation in den letzten 10 bis 15 Jahren in kleinen Schritten immer weiter verschlechtert.

Grosse Abhängigkeit von Asien

Christoph Amstutz, Leiter der Abteilung Heilmittel beim BWL, weist auf die «starke Abhängigkeit» Europas von Asien (China, Indien) für Wirkstoffe hin, die zu vielen Problemen führe. Die Schliessung von Produktionsstätten und die Verlagerung von Standorten in den vergangenen 15 Jahren seien ein «grosser Fehler» gewesen, sagte er.

Zwar seien die Preise für einige Medikamente um das Zehnfache oder mehr gesunken, aber ein «Sandkorn» reiche aus, um die gesamte Lieferkette zu stören. Zwischen Covid-19, Fabrikunfällen und dem Krieg in der Ukraine sehe sich die Welt heute einem Sturm von «Sandkörnern» gegenüber, der sowohl die Produktion und den Transport der Wirkstoffe als auch die Herstellung des Medikaments selbst und der Verpackungen störe.

Die Situation ist «dramatischer als je zuvor», sorgt sich der Lieferant Zur Rose: «Die Knappheit betrifft in erster Linie billige, gängige Medikamente, die nicht mehr geschützt sind, Generika, wie Schmerzmittel, Antibiotika, Hustensäfte, Krebsmedikamente, aber auch Blutverdünner oder Temesta», sagte der Kommunikationsverantwortliche Simon Marquard.

Schweiz steht ausserhalb

Die Europäische Kommission hat Anfang des Monats eine Liste mit über 200 Substanzen und mehreren Hundert Medikamenten veröffentlicht, die als «kritisch» für die EU gelten und bei denen sie die Autonomie Europas stärken will.

Die Schweiz bemühe sich, mit der EU eine Lösung auszuhandeln, sagte Amstutz. Die Tatsache, dass die Schweiz ausserhalb der EU stehe, mache die Sache nicht einfacher. Ein weiterer grosser Risikofaktor sei die starke Konzentration der Branche. Ein Drittel der Wirkstoffe von Generika für den US-Markt werde beispielsweise an einem einzigen Standort hergestellt, meist in Indien oder China, wie die Datenbank Clarivate Analytics' Cortellis Generics Intelligence zeigt.

Für Europa ergab eine andere Studie von MundiCare, dass 70 Prozent der in Europa und Japan hergestellten Generika Wirkstoffe aus China enthalten. Der Westen hat demnach in den letzten 15 bis 20 Jahren die Produktion massiv ausgelagert.

Hohe Margen

Die Schweiz ist zwar das Land der Pharmaindustrie, aber die Basler Konzerne konzentrieren sich heute vor allem auf prestigeträchtige Medikamente mit hohen Margen, so ein Fazit der Gespräche. Alltägliche Produkte wie das Beruhigungsmittel Lexotanil (oder Lexomil), einst der Stolz von Sandoz, werden heute von anderen, kleineren Herstellern produziert, die oft nicht mithalten können.

Die Patienten haben manchmal keine andere Wahl, als ein weniger geeignetes Alternativprodukt einzunehmen. Oder sie decken sich in ausländischen Apotheken mit Medikamenten ein, so zum Beispiel im französischen Annemasse, wie ein Apotheker in der Region Hochsavoyen sagte.

Da auch gängige Produkte fehlten, führe dies zu einem Mangel an anderen Medikamenten, auf die die Patienten zurückgreifen müssten: So habe der Mangel an Temesta einen Schneeballeffekt, der die Nachfrage nach Lexotanil und anderen Beruhigungsmitteln ansteigen lasse.

Ältere Menschen besonders betroffen

Das Problem betrifft vor allem ältere Menschen. Wer gewohnt ist, auf (ausverkaufte) Beruhigungsmittel zurückzugreifen, bekommt manchmal standardmässig Antipsychotika verabreicht, die sehr starke Medikamente sind. Das macht die Situation nicht einfacher, wie es weiter hiess. Die Situation sei umso schwieriger, da die Probleme vieler Bereiche wie Politik, Wirtschaft, Gesundheit miteinander verwoben seien, und das auch noch auf globaler Ebene, so die Experten.

Das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung kümmert sich zwar nur um sogenannte kritische oder lebensrettende Medikamente, eine Kategorie, für die es Pflichtlager (für drei Monate) für 200 Produkte anlegen musste. Diese Liste ist in den Augen einiger Apotheker jedoch viel zu restriktiv. Sie ist laut HUG-Chefapotheker Bonnabry dreimal kürzer als die Liste der von der EU anerkannten kritischen Arzneimittel.

Bis die Ursache des Problems behoben ist, empfiehlt die Schweizer Taskforce «Engpass Medikamente» weiterhin die Abgabe bestimmter Medikamente in Teilmengen. Das heisst, Medikamente werden aus der Verpackung entnommen und begrenzt abgegeben.

(AWP)