Auf den Grossangriff der Hamas auf Zivilisten hat Israel mit Bomben auf den Gazastreifen reagiert, eine Bodenoffensive wird erwartet. Israel will die radikal-islamische Gruppe, die in dem dichtbesiedelten Küstenstreifen herrscht, eigenen Angaben zufolge auslöschen - als Vergeltung für die Morde und Geiselnahmen in Israel am 7. Oktober. Einen genauen Plan für die Zukunft des Gazastreifens mit seinen 2,3 Millionen Einwohnern hat Israel aber nicht, wie hochrangige Vertreter des Sicherheitsapparats einräumen. "Die Strategie besteht darin, tausende Bomben abzuwerfen, alles zu zerstören und einzumarschieren - aber was dann? Man hat keine Exitstrategie für die Zeit danach", sagt ein Informant aus Sicherheitskreisen in der Region. Das Fehlen eines solchen Plans schürt Sorgen sowohl bei Israels Partnern wie den USA als auch bei den Nachbarn im Nahen Osten.

Der neuerliche Krieg zwischen der Hamas und Israel ist mit mittlerweile mehr als 5000 Toten auf beiden Seiten beispiellos in der 75-jährigen Geschichte Israels. Seit der Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen im Jahr 2006 kam es dreimal zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Doch anders als diesmal hatte Israel in den Jahren 2008/2009, 2012 und 2014 nicht das Ziel ausgegeben, die Hamas vollständig auszuschalten. Seinerzeit ging es lediglich darum, die Gruppe zu schwächen oder, wie es in Israel hiess, "das Gras kurz zu halten". Nach dem Angriff der Hamas auf israelische Zivilisten, der 1400 Menschen das Leben kostete, reagierte Israel jedoch mit der vollständigen Abriegelung des Gazastreifens, systematischem Beschuss und der Einberufung einer noch nie dagewesenen Zahl von 360'000 Reservisten. Aufseiten der Palästinenser starben nach deren Angaben bisher 3500 Menschen.

Insidern zufolge ist das kurz- und mittelfristige Vorgehen der "Operation eiserne Schwerter" zwar formuliert: die Zerstörung der Infrastruktur des Gazastreifens, auch um den Preis hoher ziviler Opfer, die Vertreibung der Bevölkerung nach Süden in Richtung der ägyptischen Grenze und das Ausschalten der Hamas, auch indem ihr militärisches Tunnelsystem gesprengt wird. Das sagten drei Insider, die mit den Gesprächen der USA mit Spitzenvertretern der Nahost-Staaten vertraut sind, der Nachrichtenagentur Reuters. Doch bereits ein Kampf um die unterirdischen Anlagen sei nicht zu unterschätzen, sagte einer der Insider aus Sicherheitskreisen in der Region. Dagegen sei das Tunnelsystem, mit dem im Vietnamkrieg die Vietcong-Guerilla zur Niederlage der US-Truppen beigetragen hatten, ein Kinderspiel gewesen. "Israel wird die Hamas nicht mit Panzern und Feuerkraft ausschalten."

Israels Sicherheitsratschef: Analysieren die Lage

Der Chef von Israels Nationalem Sicherheitsrat, Tzachi Hanegbi, räumte ein, dass Israel noch keine abschliessenden Plan für den Gazastreifen entwickelt habe: "Wir denken natürlich darüber nach und beschäftigen uns damit." Die Lage werde analysiert. Neben dem Nationalen Sicherheitsrat beteiligten sich Militär und andere Stellen an den Überlegungen über ein Kriegsende. "Wir wissen nicht sicher, wie es aussehen wird."

Diese Frage treibt auch die USA als engsten Partner Israels um. Einige Berater von US-Präsident Joe Biden trauen Israel zwar zu, die Hamas nachhaltig zu schwächen. In der US-Regierung herrsche jedoch Skepsis, ob Israel in der Lage sei, die Gruppe vollständig zu zerstören, sagte eine mit der Angelegenheit vertraute Person in Washington. Auch halte man es für wenig wahrscheinlich, dass Israel den Gazastreifen oder dessen Teile dauerhaft besetzen wolle. Ein wahrscheinliches Szenario sei, dass Israel möglichst viele Hamas-Mitglieder töte oder gefangen nehme, Tunnel und Rüstungsbetriebe sprenge und schliesslich unter dem Eindruck steigender Opferzahlen auf der eigenen Seite seinen Sieg und Abzug erkläre.

Das Dringen der USA auf eine Exitstrategie habe auch bei den jüngsten Israel-Reisen von Aussenminister Antony Blinken und Verteidigungsminister Lloyd Austin eine wichtige Rolle gespielt, sagte der Insider. Eingeweihten aus der Nahostregion zufolge plädieren die USA für eine Stärkung der Palästinensischen Autonomiebehörde, die 2007 die Kontrolle über den Gazastreifen an die Hamas verloren hatte. Doch bestünden grosse Zweifel daran, dass diese oder irgendeine andere Institution in der Lage sei, das Gebiet im Falle einer Entmachtung der Hamas zu regieren. Resigniert äusserte sich der Nahost-Experte Aaron David Miller von der Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden. Ein Friedensplan für den Gazastreifen unter Mitwirkung der Vereinten Nationen, der Palästinensischen Autonomiebehörde, Saudi-Arabiens, Ägyptens sowie der USA und Europas passe "in eine weit entfernte Galaxie und nicht auf den Planeten Erde", sagte der frühere US-Unterhändler für den Nahen Osten.

Übergreifen des Krieges auf weitere Länder befürchtet

Unterdessen wachsen die Sorgen vor einer Ausweitung des Konflikts. Der Krieg könnte für Aufruhr in den Bevölkerungen arabischer Länder sorgen. Im Norden Israels könnte die radikal-islamische Hisbollah aus dem Libanon mit Unterstützung des Iran eine weitere Front eröffnen. Der iranische Aussenminister Hossein Amir-Abdollahian drohte mit einem Präventivschlag gegen Israel, falls es zu einer Invasion des Gazastreifens komme. Der Iran werde nicht tatenlos zusehen, wenn die USA Israel nicht zurückhielten. Tatsächlich forderte auch Biden bei seinem jüngsten Besuch von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ein Masshalten. Die "grosse Mehrheit der Palästinenser ist nicht die Hamas", sagte Biden. "Die Hamas repräsentiert nicht das palästinensische Volk."

Israels Nachbarn fürchten eine erneute Vertreibungswelle wie im Zuge des israelischen Unabhängigkeitskrieges von 1948 und des arabisch-israelischen Krieges von 1967. Der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi erklärte bereits, er lehne eine Aufnahme von Palästinensern auf der an den Gazastreifen grenzenden Sinai-Halbinsel kategorisch ab. Denn damit werde Ägypten zu einer Basis für Angriffe gegen Israel und im Gegenzug auch zum Ziel von dessen Vergeltungsschlägen.

Ein weiterer Insider aus der Region fasste den Pessimismus mehrerer Ansprechpartner zusammen: "Was immer man sich als schlimmstes Szenario vorstellt, es wird noch schlimmer kommen."

(Reuters)