New York City, Wall Street, kurz vor 9.30 Uhr: Börsenhändler und Fotografen blicken gebannt in Richtung des kleinen Balkons, der rechts über dem Eingang in den Börsensaal ragt. Davor eine Glocke, darüber eine riesige USA-Flagge. Dann springt der grosse Zeiger auf die 30 – Händeklatschen, Glockenscheppern. 

Das zehn Sekunden lange Geläut, das den Start aller Aktivitäten an der New York Stock Exchange symbolisiert, ist eine der grossen Traditionen, die jeden Wandel im Börsengeschehen überlebt haben. Auf dem Parkett ist es ruhiger geworden, seit die Aktien elektronisch gehandelt werden, über Computerprogramme und Smartphone-Apps. Doch die «Opening Bell» ist geblieben – und hat nichts von ihrer Magie eingebüsst.

Geblieben ist auch Peter Tuchman. 1985 nahm der heute 61-Jährige einen Sommerjob am Fernschreiber an, einer Mischung aus Schreibmaschine und Telegraf, und arbeitete sich von ganz unten zum unabhängigen Broker hoch. Heute ist er an der Wall Street eine Legende. Der Sicherheitsmann, der Typ von Goldman Sachs, die Journalistin von Fox News: Alle winken sie dem kleinen Mann zu. Wenn er übers Parkett schreitet, gleicht er mit seinem grauen, lichten Haar ein wenig dem Physikgenie Albert Einstein (1879–1955).

«Einstein» hasst Computer

Laut Wikipedia ist Tuchman, den hier jeder liebevoll "Einstein" nennt, der meistfotografierte Aktienhändler der Welt. Kaum ein anderer Trader zeigt seine Emotionen so offen wie er: Freude, Entsetzen, Angst und Triumph – kein Wunder, lieben ihn Fotografen und Kameraleute. Alles nur Show? "Nein", sagt Tuchman. "Ich lebe den Aktienkurs. Ich bin mit ganzem Herzen dabei." 

Die Lebenslust habe er von seinen Eltern, erklärt er bei einem Espresso. Marcel und Shoshana Tuchman überlebten den Holocaust; sie waren im Konzentrationslager von Auschwitz. Peter Tuchmans Grossmutter wurde vor den Augen seines Vaters ermordet. "Das ist meine Geschichte, nun erzähl mir deine", sagt er und grinst.

Sein Interesse ist keineswegs gespielt. "Einstein" liebt die Menschen. Die meisten Händler hätten sich über die Jahre hinweg geöffnet und ihm private Angelegenheiten anvertraut. Sonst aber dominiert auch in seinem Arbeitsalltag der Computer. "Ich hasse es, Aufträge mit Tastatur und Mausklick abzuschliessen", sagt er und zieht ein Bündel Papiere aus dem Anzug. Wehmütig erklärt er den Handel von anno dazumal und seufzt: "Das waren noch Zeiten!" 

«Geld ist nicht meine Motivation»

Peter Tuchman passt so gar nicht ins klassische Bild des Börsenhändlers an der Wall Street. Kalt? Geldgierig? Erbarmungslos? Er doch nicht! "Einstein" sagt Sätze wie: "Geld ist nicht meine Motivation", und erklärt, dass er gerade seine zwei Kinder mit Ach und Krach durchs College bringen konnte. "Wir Broker auf dem Parkett verdienen nicht so viel, wie alle denken." Abkassierer seien vielmehr die Entscheidungsträger im Hintergrund.

Tuchman tradet an der Börse für die Kunden eines Unternehmens, bei dem er angestellt ist. Pro Tag setzt er zwischen 10 und 150 Millionen Dollar aufs Spiel. Schlecht schlafen müsse er deswegen nicht. "Ich nehme meine Arbeit nicht mit nach Hause." Tuchman selbst hat noch nie eine Aktie besessen. "Wie soll ich mich auf die Kunden konzentrieren, wenn ich mich selber die ganze Zeit um mein Geld sorgen muss?" 

Er liebt das Drama – aber nicht jedes

Kurz vor 12 Uhr: Tuchman hält jetzt ein Sandwich in der Hand. "Keine Zeit, woanders zu essen", sagt er mit vollem Mund und klopft einem jungen Mann auf die Schultern. "Das ist mein Sohn", sagt er, dreht ihm aber gleich wieder den Rücken zu: "Der tut immer so beschäftigt."

Nach der "Opening Bell" herrscht auf dem Parkett Konzentration. Kein Geschrei, kaum Gequatsche. Nur die Fernsehgeräte sorgen für einen stetigen Lärmpegel. Früher sei es immer hektisch gewesen. Auch heute gebe es noch "verrückte" Tage, so Tuchman. So etwa, wenn Präsident Donald Trump wieder mal Strafzölle ankündige. "Da schlägt mein Herz höher."

Auf den Black Monday 1987, den 11. September 2001 oder den Kollaps von Lehman Brothers 2008 blickt Tuchman, die Frohnatur, weniger gern zurück. Besonders der Terror von 9/11 hat den waschechten New Yorker mitgenommen. "Mein Leben, unser aller Leben hier hat sich an jenem Tag für immer verändert." Die Märkte blieben eine Woche lang geschlossen. Tuchman: "Ich war dann froh, als zumindest an der Wall Street wieder etwas Alltag einkehrte."

Alkohol, Partys? «Sicherlich»

Der Dow-Jones-Börsenindex entwickelt sich an diesem Juni-Tag positiv. "Endlich, das waren schwierige Tage", so Tuchman einige Stunden später. Ob man die guten Tage an der Wall Street ausgiebig feiert? "Nein, wir haben ja alle unsere Familien. Mein Sohn vielleicht", sagt er und lacht. 

Hat er den Film "The Wolf of Wall Street" gesehen? "75 Prozent Hollywood, 25 Prozent Realität", antwortet Tuchman. Klar, hätten in den 80er- und 90er-Jahren auch Drogen eine Rolle gespielt. Sex-Partys? "Sehen Sie, davon weiss ich nicht wirklich was", sagt er, blickt nach oben und schmunzelt. Alkohol, Partys? "Sicherlich. Aber keiner, mit dem ich gearbeitet habe, ist ein verrückter, drogenabhängiger Leonardo Di Caprio." 

Glaubt "Einstein", dass er irgendwann genug hat von der Wall Street? "Nie, ich bleibe bis ganz zum Schluss!"

Dieser Beitrag erschein zuerst im «Blick» unter dem Titel «Die Börsen-Legende hatte noch nie eine Aktie».