Herr Thozet, können Sie in die Zukunft sehen?

Kevin Thozet: Leider nicht.

Dann wissen Sie nicht, wie es an den Börsen weitergeht?

Nun ja, wir haben fundierte Erwartungen. Das erste Halbjahr an den Aktienmärkten dürften die Kurse noch steigen, bevor es im zweiten Halbjahr wieder ruppiger wird.

Also im Juni wieder verkaufen?

So könnte man das sagen, aber das wäre die kurzfristige Strategie. Die Märkte sind wie üblich an der 'Wall of Worries' nach oben geklettert. Inzwischen haben sich die Dinge zum Besseren gewendet. Die Rezession fällt milder aus als befürchtet, die Inflation hat ihren Gipfel erreicht, durch den milden Winter haben sich die Gaslager weniger geleert, und China hat sich früher geöffnet. Im zweiten Halbjahr werden die Märkte realisieren, dass der einfache Teil bereits hinter uns liegt.

Wo könnte die Enttäuschung herkommen?

Die Märkte werden sich bewusst, dass die Inflation hoch bleibt und eine Lockerung der Geldpolitik nicht so schnell kommt wie erhofft. Das wird dann eingepreist. Auch werden die Firmen verstärkt unter höheren Kapitalkosten und geringerer Nachfrage leiden.

Wo sind die Chancen an den Aktienmärkten noch am besten?

Da sich jeder auf Inflation und das Wachstum fokussiert, macht es Sinn, ganz woandershin zu sehen. So bietet China grosse Chancen. Das Land hat sich geöffnet und befindet sich in einem komplett anderen Stadium als etwa die USA. In China beginnt die Erholung erst. Hat der aufgestaute Konsum die US-Börsen 2021 beflügelt, wird sich dieselbe Entwicklung nun in China ereignen. Die überschüssigen Ersparnisse der Chinesen liegen bei 2,7 Billionen Dollar, 900 Milliarden mehr als vor der Pandemie.

Viele Investoren haben sich abgewendet. Sind die Unsicherheiten in China nicht zu gross?

Genau da liegt die Chance. Vor zwei, drei Monaten war China uninvestierbar. Aber viele Probleme, darunter die Immokrise und die Covid-Politik, haben sich gelöst oder sind auf einem guten Weg. Langsam springen alle Ampeln von Rot auf Grün. Man kann wieder in China investieren. Internationale Anleger sind in China genauso wie in Europa unterinvestiert und kaufen wieder zu.

Also favorisieren Sie auch Europa?

Europa dürfte besser laufen als die USA. Der Markt ist günstiger, und die Rezession ist in der EU wohl bereits vorbei. Der Euro dürfte aufwerten, was Investoren aus dem Dollarraum entgegenkommt.

Rechnen Sie mit einer Auferstehung der Technologieaktien?

Nicht wirklich. Als der Inflationstrend brach, sollten die sich erholen, das taten sie aber nicht. Vielleicht ist es Zeit für neue Favoriten, etwa Industrieaktien.

Kevin Thozet ist beim französischen Asset Manager Carmignac Mitglied des Investment Committee. Das Unternehmen verwaltet umgerechnet rund 30  Milliarden Franken.

Dieses Interview erschient zuerst im Digitalangebot der «Bilanz» unter dem Titel «Im zweiten Halbjahr wird es wieder ruppiger».

Erich Gerbl
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