cash.ch: Frau Olsen, die Delta-Variante sorgt an den Märkten derzeit immer wieder für Verunsicherung. Sind Sie auch beunruhigt?

Birgitte Olsen: Ich sehe das Delta-Thema etwas weniger dramatisch. Natürlich kann niemand genau sagen, wie sich die Dinge bei Corona entwickeln. Doch die Kombination aus Impfungen und Infektionen scheint die Massenimmunität zu treiben. Das sieht man etwa in Grossbritannien, Spanien oder den Niederlanden, wo die Zahlen durch Delta zunächst massiv angestiegen sind, doch jetzt dramatisch zurückgehen. In den Niederlanden ist die Massenimmunität praktisch erreicht, in Grossbritannien und Spanien dürfte es bald soweit sein. Nach unserer Simulation sehen wir für Deutschland und die USA eine ähnliche Situation Anfang Oktober. 

Das klingt optimistisch. 

Es gibt natürlich zwei offene Fragen. Erstens, warum steht Israel nach der guten Impfkampagne jetzt erneut vor einem Lockdown? Grund könnte sein, dass die viel früheren Impfungen an Wirksamkeit einbüssen. Zweitens wirft China Fragen auf, weil man nicht genau weiss, wie hoch deren Impfrate ist. Ausserdem ist unklar, wie gut das Vakzin wirklich ist, dass dort verabreicht wurde. Allerdings weiss man auch, dass Chinas Politik Dinge nicht dem Zufall überlässt. Zudem sollen in China bald Biontech-Impfungen verabreicht werden. Insgesamt bin ich optimistisch, was die Corona-Situation angeht und sehe daher auch keinen Grund, mich gegen den Markt zu positionieren.

Dann kommen wir auf den Markt zu sprechen. Wir sehen eine gute Schweizer Berichtssaison, die jedoch kaum für Impulse an der Börse sorgt. Was sagt das über das aktuelle Bewertungsniveau am Aktienmarkt aus? 

Das Phänomen haben wir nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa. Es gibt eine Verzögerungen der Aktienperformance. Am Tag der Zahlenpublikation gibt es Unternehmen wie Logitech, die exzellente Zahlen vermelden und an der Börse zehn Prozent verlieren. Das war jetzt meist stark korreliert mit der Guidance der Unternehmen. Jene, die eher konservative Ausblicke ausgegeben haben, so wie es Logitech traditionell tut, werden zunächst abgestraft. Die Börse wird in solchen Fällen sofort unsicher, was die Zukunft betrifft. Das hat sowohl mit Delta, als auch mit dem Thema Tapering, also der schrittweisen Drosselung der Anleihekäufe Notenbanken, und der Verlangsamung des Konjunkturaufschwungs in China zu tun. 

Das klingt nach einer hohen Bewertung des Aktienmarkts. 

Ja, aber die Bewertungen sind nicht dramatisch hoch, wenn man sie in Relation zum Zinsniveau und den Geschäftszahlen der Firmen sieht. Dadurch, dass die gute Berichtssaison keine Kursimpulse auslöst, steigen derzeit die Gewinne stärker als die Aktienkurse. Die Kurs-Gewinn-Verhältnisse für die nächsten zwölf Monate gehen demnach sogar eher zurück. Die Preise für Aktien werden also günstiger. 

Für Unsicherheit sorgt auch, dass das Wirtschaftswachstum so langsam seinen Höhepunkt erreicht haben könnte. 

Dass der Höhepunkt mal kommen muss, ist logisch. Der globale Einkaufsmanagerindex beträgt derzeit 71,1 (ab einem Wert über 50 wird Wachstum angenommen, Anm. d. Red.). Es kann natürlich nicht so steil bleiben. Trotzdem werden wir in den nächsten zwei Jahren ein Wirtschaftswachstum haben, welches weit über dem der letzten zehn Jahre liegen wird. 

Unter den einzelnen Branchen hat der zuletzt starke Industriesektor etwas an Schwung verloren. Welche Sektoren bevorzugen Sie jetzt, welche meiden Sie?

Es wird künftig mehr denn je sowohl Zykliker wie die Industriewerte als auch eher defensive Titel und Qualitätsaktien im Depot brauchen. Schliesslich wechselt die öffentliche Diskussion hin und her zwischen den Szenarien. Da ist einmal das Szenario Wirtschaftswachstum, Reflation Trade und Inflation, was gut für Zykliker und Value ist. Auf der anderen Seite ist da die Tapering-Diskussion, die wiederum gut für Qualitätsaktien sind, von denen wir in der Schweiz zum Glück viele haben, Lindt & Sprüngli zum Beispiel. Die Diskussion um diese Szenarien gehen hin und her. Daher braucht es beide Arten von Aktien im Depot. Unsicherheiten, die zwischenzeitlich durch Delta oder China aufkommen, sind exzellente Gelegenheiten, konsolidierte Industriewerte aufzusammeln. 

Als echte Qualitätsaktie gilt in der Schweiz der Bauchemiespezilalist Sika. Die Aktie kennt seit Jahren nur die Richtung nach oben. Drohen bei einem Peak-Wachstum Rücksetzer? 

Sika ist in einem strukturellen Wachstumsmarkt, der noch immer nicht konsolidiert ist und weist eine sehr hohe Profitabilität auf. Durch den hohen Cashflow ist Sika sehr innovativ, gewinnt laufend Marktanteile und ist zudem sehr aktiv in Sachen Mergers & Acquisitions, also bei Übernahmen. All diese Charakteristika führen dazu, dass das Wachstums von Sika von der allgemeinen Konjunktur abgekoppelt ist. Das Unternehmen ist praktisch unkaputtbar. 

Unkaputtbar? 

Es sei denn, es passieren gravierende Managementfehler. Sika ist so diversifiziert in so vielen Ländern, dass es sich das Unternehmen leisten kann, wenn es in gewissen Regionen mal eine Weile lang nicht so gut läuft. Die Performance der Aktie korreliert mit der stetigen positiven Revision der Gewinnaussichten von Sika. Auch ein Anstieg der Rohmaterialkosten kann Sika wenig anhaben, weil sie sich mittlerweile eine Preissetzungsmacht erarbeitet haben. Sie können ihre Preise einfach ebenfalls erhöhen und dadurch die Marge hoch halten. Trotz der stolzen Bewertung kann man die Aktie gut im Portfolio behalten. 

Wieso kommt eigentlich die Aktie von Holcim, ebenfalls in der Bauwirtschaft tätig, einfach nicht vom Fleck? 

Auf Holcim lastet die grosse Kapitalintensität von Beton. In der Zementindustrie müssen sie zehn Jahre im Voraus planen. Holcim hat ein tolles Management und macht alles richtig, aber es ist einfach ein ganz schwerer Tanker und kann nicht mit einer agilen Sika verglichen werden. Zudem lastet das Thema ESG (Environmental Social Governance) auf die Holcim-Aktie. Das Unternehmen hat noch immer einen enormen Energiebedarf. Daher haben wie die Aktie auch nicht im Depot. 

Im Februar berichteten Sie im Gespräch mit cash.ch, dass Sie Ihre Position in Zur Rose massiv heruntergefahren haben - eine sehr gute Entscheidung, wie wir jetzt wissen. Haben Sie bereits wieder zugekauft? 

Ja, wir haben bei rund 300 Franken wieder aufgestockt. Wir glauben, dass das Unternehmen strukturell attraktiv ist. Unser Ziel auf zwölf Monate liegt noch immer bei 500 Franken. Zur Rose ist technologisch viel besser positioniert als Konkurrenten wie etwa Shop Apotheke

Für Unsicherheit sorgt stets die Diskussion um die Einführung des E-Rezepts in Deutschland, die im Januar 2022 erfolgen soll. 

In den Medien wird immer darüber diskutiert, ob das E-Rezept wirklich eingeführt werde, und ob man parat sei. Dabei ist die Frage nicht ob, sondern wann. Die Patienten wollen das E-Rezept, dies zeigen Umfragen. 

Diese Woche veröffentlichte VAT die Geschäftszahlen. Wird das Unternehmen von den hohen Investition im Chipbereich weiter profitieren? 

Auf jeden Fall. Wir sind schon länger langfristig positiv gestimmt für Technologie und den Halbleiter-Sektor. Zudem wächst das Vakuum-Segment stärker als der allgemeine Halbleiter-Markt. Und hier ist VAT acht mal grösser als der nächste Wettbewerber. Dadurch kann das Unternehmen seine technologische Führung und seine Marktposition aufrechterhalten. 

Auch hier gilt aber: Die Aktie ist recht teuer. 

Die Bewertung ist hoch, ja. Das gilt aber für den ganzen Halbleiter-Sektor. Das Wachstum hat hier sowohl eine zyklische als auch eine strukturelle Komponente. Man muss natürlich aufpassen, wann sich die Geschwindigkeit des Wachstums abflacht. Ich glaube aber nach wie vor, dass, was die zukünftigen Gewinne angeht, die Konsenserwartungen immer noch zu tief sind. Das heisst, die Aktie kann die hohe Bewertung rechtfertigen. 

Bei Logitech sah man zuletzt das klassische «Sell the News»-Phänomen. Kritiker fürchten, dass sich die allgemeinen «​​Stay at home»-Wachstumstreiber abschwächen. Ist die Luft bei der Aktie erstmal raus? 

Nein, niemals. Rein statistisch flacht sich das Wachstum tatsächlich ein wenig ab, aber ein Wachstum von 30 oder 40 Prozent ist noch immer ein hohes Wachstum. Die schiere Diversifikation des Portfolios und die zahlreichen Produktpaletten sprechen für Logitech. Zudem verläuft die Aktie seit sechs Monaten insgesamt seitwärts. 

Mit anderen Worten: Jetzt ist eine gute Einstiegsgelegenheit? 

Auf jeden Fall. Die Guidance ist unserer Meinung nach zu konservativ, wie so oft bei Logitech. Auch das 2021er-KGV ist mit rund 25 alles andere als überrissen, vor allem im Vergleich zum Wachstum. Unter dem Niveau von 100 Franken haben wir unsere Position erhöht.