cash.ch: Herr Kreuzkamp, viele Anleger fürchten, die totgeglaubte Inflation komme jetzt mit voller Wucht zurück. Selbst die Fed erhöht ihre Inflationsprognosen leicht. Wie stark fällt Sie nun aus? 

Stefan Kreuzkamp: Nun ja, die Inflationszahlen legen seit 2019 eine Achterbahnfahrt hin. 2021 sehen wir natürlich einen starken Anstieg, doch 2022 gehe ich wieder von einem markanten Rückgang aus. 

Was macht Sie da so sicher?

Wenn man sich die Zahlen 2020 anschaut, sieht man starke Basiseffekte. Die Inflation war in diesem Jahr sehr niedrig. Der Ölpreis notierte zeitweise negativ. Wir hatten einen starken Preisdruck im Dienstleistungssektor. Während der Finanzkrise war dieser Sektor noch relativ unbeschadet davongekommen, betroffen war damals eher der Produktionssektor. Dieses Mal ist es genau umgekehrt. Die Inflation wird 2021 stark überschiessen. 

Warum wird sich das 2022 wieder normalisieren? 

Die Effekte, die 2021 zu dem Preisdruck führen, werden sich im nächsten Jahr verflüchtigen. Die Nachholeffekte aufgrund der Corona-Pandemie, etwa im Konsum oder bei Versorgungsunterbrechungen, werden nachlassen. Auch die Überhitzung bei den Materialien wird zurückgehen. Ich weiss nicht, ob Sie zuletzt mal versucht haben, ein Stück Holz zu kaufen. Auch hier wird sich die Lage nach den enormen Preissteigerungen wieder normalisieren. Zudem sehen wir in den nächsten beiden Jahren einen eher geringen Lohndruck aufgrund von Unterbeschäftigung in der Euro-Zone. 

Das Thema Inflation wird sich also früher oder später erledigen?

Erledigen würde ich nicht sagen. Wir werden durchaus einen Trend zu tendenziell höherer Inflation sehen, vor allem ab 2024. Grund ist die alternde Bevölkerung, die zu einer höheren Nachfrage und einem geringeren Angebot führen dürfte. Ausserdem werden die Notenbanken höhere Inflationsraten gerne tolerieren - aus einem superwichtigen Grund, der bei der ganzen Diskussion um Inflation nicht vergessen werden darf. 

Und zwar? 

Während der Pandemie ist der Verschuldungsgrad der Länder massiv angestiegen. Es wurde fiskalpolitisch versucht, den Schmerz der Krise so gering wie möglich zu halten. Doch es wird der Zeitpunkt kommen, an dem ist Payback-Time, also Zahltag. Es wird sehr viele Jahre dauern, um die Verschuldung wieder auf Vor-Pandemie-Niveau zu senken. 

Wie kann dieser Schuldenberg abgebaut werden?  

Da gibt es verschiedene Wege, einer davon wäre Wachstum. Ein Staat kann durch wachstumsfreundliche Politik aus der Verschuldung herauswachsen. Ich glaube aber nicht, dass wir in Europa derart hohe Wachstumszahlen generieren können, die dafür nötig wären. Ein anderer Weg wäre Sparen, um dadurch einen nachhaltigen Primärüberschuss zu erreichen. Hier geht es primär um die Senkung von Staatsausgaben. Ich kann mir aber beim besten Willen nicht vorstellen, dass wir angesichts der fragilen Situation aktuell eine massive Senkung der Staatsausgaben sehen werden. 

Tja, was bleibt dann über? 

Die finanzielle Repression - der dritte Weg. Die Staatsverschuldung wird von Notenbanken durch sehr niedrige, teilweise negative Nominalzinsen unterstützt. Bei höherer Inflation führt das natürlich auch zu negativen Realzinsen. Heisst: Alle sind daran interessiert, dass erstens die Inflation steigt und zweitens die Zinsen niedrig bleiben. Höhere Inflationsraten werden künftig toleriert werden. Dadurch kann der Weg aus der Verschuldung heraus beschleunigt werden. Ich denke, vor allem dieser Weg dürfte verfolgt werden. Es gibt schlicht keine andere vielversprechende Möglichkeit. Wir können es uns gar nicht leisten, die Nominalzinsen stark zu erhöhen.

Die US-Anleiherenditen haben zuletzt weder auf die steigenden US-Konsumentenpreise noch auf die steigenden US-Produzentenpreise nennenswert reagiert. Hat der Markt die Inflationssorgen weitestgehend eingepreist?

Ich würde sagen, ja. Es sei denn, wir bekommen jetzt eine US-Notenbank Fed, die plötzlich anfängt, extrem "hawkish" zu sprechen, also stärkere Zinserhöhungen in Aussicht stellt. Ich gehe aber davon aus, dass die Notenbanken 2021 weiter expansiv bleiben. Der Markt schaut allerdings bereits auf eine mögliche Reduzierung des "Quantitative Easings", auch Tapering genannt, ab den Jahr 2022. Wir erwarten, dass die Fed die Leitzinsen bis Ende 2022, vielleicht sogar bis Mitte 2023, nicht anfasst. 

Waren die Aussagen der Fed nach der Zinssitzung am Mittwoch nicht bereits "hawkish"? Zumindest mehr als man angenommen hatte? Immerhin merkte Fed-Chef Jerome Powell an, die Diskussion über ein Zurückfahren der extrem lockeren Geldpolitik habe begonnen. 

Der Ton der Fed war sicherlich "hawkisher" als in der vorangegangenen Sitzung. Aber das war eigentlich zu erwarten, denn die Fed folgt damit im Wesentlichen den Prognosen des Marktes. Natürlich muss die Geldpolitik bei einer weiteren Verbesserung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt irgendwann reagieren. Doch die Fed wird weiter "datenabhängig" agieren, also keinem vorgegeben Pfad folgen. Das ist dem Markt wichtig, sollte die Erholung holpriger als gedacht verlaufen.  

Ab wann wird die Fed die Anleihekäufe nun reduzieren, also das angesprochene Tapering in Angriff nehmen? 

Wir gehen davon aus, dass die Anleihekäufe weiter fortgesetzt werden mit einem monatlichen Volumen von 120 Milliarden Dollar. Das wird den Markt weiter stützen. Ab dem Jahr 2022 glauben wir, dass die Fed beginnen wird, die Käufe graduell langsam zurückzufahren. In der Eurozone sehen wir das ähnlich. Die Europäische Zentralbank (EZB) wird vor 2023 keine Zinsänderungen vornehmen. Auch das sogenannten Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP), das zur Bekämpfung der Folgen der Pandemie aufgesetzt wurde, wird wahrscheinlich bis März 2022 fortgesetzt. Die EZB hat bisher etwa 50 Prozent der von ihnen angekündigten 1,9 Billionen Euro dafür verwendet. Das wird auch die Fixed-Income-Märkte, also etwa die Renditen auf Staatsanleihen, in etwa dort belassen, wo sie aktuell sind. 

Das bedeutet also, die vielzitierte Alternativlosigkeit bei Aktien, wird noch eine Weile Bestand haben? 

Wenn wir von Retailkunden sprechen, wird das auf jeden Fall weiter zutreffen. Da gibt es zur Aktie kaum Alternativen. Bei einer tendenziell höheren Inflation ist es ganz gut, auch ein paar Sachwerte im Depot zu haben. 

Müssen sich Anlegerinnen und Anleger trotzdem Sorgen über die Bewertungen der Aktienmärkte machen? 

Über die Bewertung der Aktienmärkte machen wir uns immer Sorgen (lacht). Auf Index-Ebene ist der US-Markt aktuell mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von leicht über 21 bewertet, Europa mit einem KGV von 16. Der hiesige Aktienmarkt ist also noch einigermassen normal bewertet, doch in den USA sind wir schon sehr nahe an dem Niveau von 2000. Natürlich bedeutet eine steigende Inflation eine gewisse Bedrohung für die Margen und damit auch für die Bewertungen. Zudem sprechen wir in den USA unter Präsident Joe Biden auch über steigende Steuern. 

Was für Renditeerwartungen haben Sie in den nächsten Jahren bei Aktien? 

Auf breiter Indexebene würde ich den Aktienmärkten allgemein nicht mehr ganz so viel Aufwärtspotenzial geben. Das liegt in meinen Augen im niedrigen einstelligen Prozentbereich pro Jahr. Wir sehen eher unterhalb der Indexebene Potenzial. Wer also den breiten Index kauft, wird in den nächsten zehn Jahren nicht mehr als drei oder vier Prozent Rendite machen. 

Welche Untersegmente bieten mehr Rendite? 

Da ist einmal das Thema Nachhaltigkeit. Climate-Tech, Blue Economy oder Digitale Bildung sind hier wichtige Schlagworte. Generell ist der Bereich Digitalisierung in vielen Bereichen noch immer in den Kinderschuhen. 

Monatelang hiess es am Markt, raus aus Technologie, rein in Zykliker und Substanzwerte. Doch der Nasdaq knackte diese Woche sein Allzeithoch. Ist diese Branchenrotation schon wieder vorbei? 

Die Pandemie hat die digitale Transformation der Gesellschaft massiv beschleunigt. Nur wie gesagt: Wir stecken in vielen Branchen noch immer in den Kinderschuhen. Denken Sie an vernetzte Industrie oder an die öffentliche Verwaltung, dort ist ja praktisch noch alles analog. Wir bleiben daher massiv in der IT-Branche investiert. Aber wir schauen auch auf Digitalisierungs-Vorreiter in anderen Industrien. Ein anderer Schwerpunkt, der sich am Markt noch nicht wirklich durchgesetzt hat, aber der kommen wird, ist der Klimawandel. Das heisst, Investitionen in nachhaltige Firmen und Klimatechnologien werden wir tendenziell ausbauen. 

Wo sehen Sie noch Potenzial? 

Die Pharmabranchen konnte in der Pandemie beweisen, dass sie innovativ und handlungsfähig ist. Wir haben sowohl kleine und junge Unternehmen gesehen, die letzten Endes viele der der Corona-Impfstoffe entwickelt haben. Aber auch die etablierten Pharmaunternehmen haben ihre Stärken gezeigt. Die Zusammenschlüsse von jungen Firmen und erfahrenen Playern haben viele Win-Win-Situationen kreiert. Anleger, die in diesen Firmen investiert sind, haben mit dieser Kombination Werte mit guten Wachstumschancen und dividendenstarke Titel im Depot liegen. Hier lohnt es sich, weiter investiert zu bleiben. 

Welche Regionen sind interessant? 

Wir sehen sehr viel Potenzial im Markt Emerging Asia. Darunter fallen Länder wie China, Südkorea oder Indien. Dieser Markt ist mit einem aktuellen KGV von 14 vergleichsweise niedrig bewertet und birgt noch grosses Aufholpotenzial, allein schon wegen der Demographie. Asien hat einen sehr interessanten Branchenmix mit hohem Gewicht in Technologie und Konsum, auch die Rahmenbedingungen verbessern sich hier. Zudem sind grosse Teile von Asien sehr gut durch die Pandemie gekommen, und zwar ohne eine grosse Erhöhung der Verschuldung. 

Dennoch gibt es die bekannten China-Risiken. Stichwort starker Machtapparat, Regulierungen. 

Chinas neue Stärkte zeigt sich in den Zahlen. Aktuell gibt es weltweit 3,2 Millionen Patentanmeldungen, davon stammen 43 Prozent aus China. Das Land versucht sich in neuen Wirtschaftssektoren, sei es Solar oder die Elektroauto-Branche, zu etablieren. Zudem zeigt China Bemühungen, technologisch autark zu werden. Das ist zwar vor allem den USA ein Dorn im Auge, aber es ist nun mal, wie es ist. Und zum Thema Regulierungen: Das ist kein exklusives China-Thema. Die Marktmacht von Amazon ist auch in den USA nicht gern gesehen.

Stefan Kreuzkamp ist Chief Investment Officer (CIO) und Head of Investment Division beim deutschen Vermögensverwalter DWS mit Sitz in Frankfurt. Das Unternehmen wurde 1956 gegründet und gehörte von 2004 bis zu seinem Börsengang 2018 voll zur Deutschen Bank.