cash.ch: Herr Gitzel, die Negativzins-Ära in der Schweiz gehört seit einigen Monaten der Vergangenheit an. Inwiefern hat sie etwas «genützt»? Oder überwogen die negativen Begleiterscheinungen?

Thomas Gitzel: Ich denke, dass sich das Experiment der Negativzinsen nicht mehr wiederholen wird. Es ist aus meiner Sicht gescheitert. Die Kosten der Negativzinsen überwiegen den Nutzen. Für die Banken wurde Liquidität zur Last. Die Kreditvergabe sprang trotz der Negativzinsen nicht an. Die Fed hat von Negativzinsen keinen Gebrauch gemacht – und das nicht ohne Grund.

Prognosen zu Leitzinsen sind seit Beginn des Zinserhöhungszyklus der Notenbanken schwieriger geworden, speziell bei der SNB. Mit welchem Schritt rechnen Sie bei der Schweizerischen Nationalbank Mitte Dezember?

Ich rechne damit, dass die SNB den Leitzins um 75 Basispunkte erhöhen wird (derzeit: 0,5 Prozent, Anm. der Red.). Anders herum gefragt, warum soll sie nicht 75 Basispunkte machen? Die Inflationsrate in der Schweiz ist im internationalen Vergleich zwar gering, sie liegt aber über den SNB-Zielen. Gleichzeitig hat die SNB sicherlich auch Interesse daran, die Zinslücke zur EZB nicht allzu gross werden zu lassen. Die eidgenössischen Währungshüter haben darüber hinaus auch ein Interesse an einem starken Franken, ist er doch das effektivste Mittel gegen einen weiteren Anstieg der Inflationsraten.

Bis auf welche Höhe wird die SNB den Leitzins emporschrauben?

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es bis auf 2 Prozent geht. Die SNB ist auf Preisstabilität bedacht und wird deshalb weiter an der Zinsschraube drehen. Ein positiver realer Leitzins ist deshalb das Ziel. Die Inflationsraten werden im Jahr 2023 sinken und die Leitzinsen steigen.

Auch die EZB und die Federal Reserve werden nächste Woche die Zinsen voraussichtlich weiter erhöhen. Erwarten Sie Überraschungen? 

Nein. Die Fed wird um 50 Basispunkte nach oben gehen. Das ist gewissermassen in Stein gemeisselt. Die EZB wird ebenfalls 50 Basispunkte machen und gleichzeitig ein Quantative Tightening lancieren. Wenn es Überraschungspotenzial gibt, dann noch am ehesten auf Seiten der EZB. Die Falken im EZB-Rat werden sicherlich für 75 Basispunkte plädieren, sich am Ende aber nicht durchsetzen können.

Die Zinserhöhungen werden die Wechselkurse beeinflussen. Wo sehen Sie die Währungspaare Euro/Franken und Dollar/Franken Mitte nächstes Jahr?

Das Währungspaar Euro/Franken entwickelt sich nicht völlig losgelöst vom Währungspaar Euro/Dollar. Da wir bei letzterem höhere Wechselkurse erwarten, wird der Euro vermutlich auch etwas gegenüber dem Franken hinzugewinnen können. Wir sehen den Wechselkurs deshalb in einer Bandbreite zwischen 0,98 und 1,02 auf Sicht des kommenden halben Jahres. Der Franken könnte weitere Kursgewinne gegenüber dem Dollar an den Tag legen. Es ist durchaus denkbar, dass wir beim Währungspaar Dollar/Franken schon bald nahe der 0,90 sind.

Weitherum geht man davon aus, dass die Schweiz eine Rezession verhindern kann. Einverstanden?

Wenn die Eurozone in die Rezession rutscht, insbesondere Deutschland, wird auch die Schweiz in die Rezession rutschen. Das zeigt die Vergangenheit. Schwächelt der gemeinsame Währungsraum, schwächelt die Schweiz. Die Sache ist in diesem Fall recht einfach.

Das Wort Rezession - per Definition zwei Quartale mit rückläufigem Wirtschaftswachstum - löst gemeinhin Angst und Schrecken aus. Ist eine Rezession wirklich so schlimm?

Nein, eine zyklische Abschwächung der Wirtschaft muss keineswegs mit Schrecken verbunden sein. Mehr noch, eine Rezession kann sogar heilsam sein. Wir sehen gerade Personalknappheiten in einem zuvor nicht gekannten Ausmass. Eine Rezession kann zu einer Neuallokation am Arbeitsmarkt führen. Das wäre dann sogar gesund. Die Rezessionen in der 1980er und 1990er Jahren haben noch zu steigender Arbeitslosigkeit geführt. Eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst wurde für viele interessant. Jobsicherheit hatte Vorrang vor einer potenziell höheren Bezahlung in der Privatwirtschaft. Gerade dem öffentlichen Sektor fehlt es an Arbeitskräften. Eine Rezession könnte also das berühmte reinigende Gewitter sein.

Wegen einbrechender Unternehmensgewinne erwarten einige Experten ein sehr holpriges Ersthalbjahr an den Börsen. Wie sehen Sie das Börsenjahr 2023?

An den Börsen geht man nach wie vor davon aus, dass es wirtschaftlich glimpflich verlaufen wird. Man geht also von einem Soft-Landing aus. Wenn die Fed allerdings den kräftigsten Zinsanhebungszyklus der vergangenen 30 Jahre lanciert, scheint ein Soft-Landing abwegig. Es kommt zu einem Hard-Landing. Gerade deshalb könnte es an den Börsen noch Rückschläge geben, zumal es in den vergangenen Wochen fast schon wieder euphorisch zuging.

China kündigte nach Protesten nun Lockerungen bei den Corona-Massnahmen an. Wie weit wird dieses «Reopening» gehen? Wie werden die Auswirkungen auf die Weltwirtschaft sein?

China muss wohl kleine Schritte in Richtung einer breitflächigen Lockerung der Corona-Massnahmen gehen. Die Staatsregierung fürchtet sich vor Aufruhr in der Bevölkerung. Das ist grundsätzlich günstig für den Binnenkonsum und für den angeschlagenen Immobiliensektor des Landes. Davon würde dann auch die Weltwirtschaft profitieren. So lautet jedenfalls das Wunschdrehbuch. Fakt dürfte aber sein, dass die Bevölkerung weiterhin stark verunsichert sein dürfte und der Binnenkonsum weiterhin nicht deutlich zulegen wird. Hauptbürde ist jedoch, dass sich die amerikanischen und europäischen Konsumenten in Zurückhaltung üben – schlichtweg, weil die Lebenshaltungskosten so deutlich gestiegen sind. Sparen lässt sich am leichtesten im Bereich von Elektronik, Kleidung und Möbeln. Produkte also, die zu einem hohen Masse aus China kommen. China wird deshalb im Jahr 2023 Opfer des schwachen Konsums in den USA und in Europa. Das Wachstum im Reich der Mitte wird aus unserer Sicht im Bereich der 3Prozent im kommenden Jahr zu sehen sein.

Das Interview wurde schriftlich geführt.