Die Währungshüter deuteten am Donnerstag in ihrem neuen Ausblick auch die Möglichkeit noch tieferer Schlüsselzinsen bis Mitte 2020 an. Laut ihrer bisherigen Prognose wollte die EZB bis dahin nicht an den Schlüsselsätzen rütteln. Zudem beauftrage die Notenbank ihre Ausschüsse, alle Optionen zu prüfen. Dazu gehören Erleichterungen für Banken, die Strafzinsen auf EZB-Einlagen zahlen müssen, sowie neue Anleihenkäufe. Eine Abkehr von der ultra-lockeren Geldpolitik, wie sie vor allem in Deutschland gefordert wird, rückt damit in immer weitere Ferne.

Isabel Schnabel, Wirtschaftsweise:
"Obwohl die Geldpolitik bereits sehr expansiv ist, bereitet die EZB eine weitere deutliche Lockerung der Geldpolitik vor. Es ist zweifelhaft, dass es so gelingen wird, die Inflationsrate im Euroraum in die Nähe von zwei Prozent zu bringen. Gleichzeitig steigen die Risiken für die Finanzstabilität weiter."

Marcel Fratzscher, Präsident DIW:
"Die Europäische Zentralbank hat einen Kurswechsel signalisiert. Die wirtschaftliche Abschwächung im Euroraum lässt der EZB keine andere Wahl, als eine noch expansivere Geldpolitik umzusetzen. Die EZB wird wohl im September ein ganzes Paket an Massnahmen bekanntgeben. Ich erwarte für September eine Senkung des Einlagezins und für die folgenden Monate einen erneuten Ankauf von Staatsanleihen."

Helmut Schleweis, Sparkassen-Präsident:
"Ein weiteres Anhalten oder eine Verschärfung der Negativzinsen wird für die Wirtschaft und für jeden in diesem Land deutlich spürbar werden. Angesichts der Erfahrungen in Japan können wir nur davor warnen, die langfristig negativen Effekte zu unterschätzen."

Iris Bethge, Bundesverband Öffentlicher Banken:
"Die Ankündigung der EZB die ultralockere Geldpolitik erneut intensivieren zu wollen, ist eine wiederholte und schwere Belastung für Banken, Finanzstabilität, Sparer und Unternehmen. Die langanhaltende Niedrigzinsphase und die massive Liquiditätsschwemme durch die EZB drängen Anleger bei der Suche nach auskömmlichen Renditen in höhere Risiken und verzerren die Preise in vielen Anlageklassen. Die EZB bereitet nun kommunikativ weitere geldpolitische Extremmaßnahmen vor und droht damit, die schädlichen Nebenwirkungen für Sparer, Banken und Unternehmen zu zementieren. Leider verlängert die EZB die Dosis der falschen Medizin."

Thomas Gitzel, Chefökonom VP Bank:
"Mario Draghi legt die Zündschnur für ein geldpolitisches Feuerwerk im September. Es wird also vermutlich nochmals zum Abschied des obersten Währungshüters ordentlich geböllert. Draghi bleibt sich aber zunächst treu. Der oberste Währungshüter handelte nicht, ohne vorher neue Einschätzungen des volkswirtschaftlichen Stabes zu haben. Selbst an der Forward-Guidance, wonach die Leitzinsen bis Jahresmitte 2020 unverändert bleiben, wurde nichts geändert. Draghi wäre aber nicht Draghi, hätte er nicht geldpolitische Bonbons zum Verteilen bereit. Die EZB überprüft ein neues Anleiheaufkaufprogramm. Darüber hinaus wird auch ein Stufenzinssystem für die Reserve-Einlagen überprüft. Letzteres lässt darauf schliessen, dass die EZB den Leitzins – möglicherweise deutlicher als bislang erwartet – senken könnte und im Gegenzug den Geschäftsbanken Freigrenzen bei der Berechnung des Negativzinses einräumt."

Alexander Krüger, Chefökonom Bankhaus Lampe:
"Den grossen Worten der vergangenen Wochen hat die EZB heute keine Taten folgen lassen. Sie steht dennoch bereit, all ihre Instrumente anzupassen. Da Konjunktur- und Inflationsdaten weiter enttäuschen dürften, wird die EZB ihren Leitzinsausblick nun wohl im September auf unbestimmte Zeit verlängern. Eine gleichzeitige Einlagesatzsenkung ist nicht in Stein gemeisselt, sie dürfte aber ebenso wie die Ankündigung erneuter Wertpapierkäufe wenig später erfolgen. Damit aber würde die EZB ein totes Pferd reiten, da Erfolge dieser Massnahmen auf Konjunktur und Inflation nicht zu erwarten sind. Von einer potenziellen Lockerung werden allein Finanzmärkte und Staatshaushalte profitieren."

Uwe Burkert, Chefökonom LBBW:
"Die EZB macht klare Ansagen. Im September kann man eine Senkung des Einlagesatzes sicher erwarten. Ausserdem dürften die Banken im Euroraum in Sachen Negativzins entlastet werden. Das wird die Akzeptanz der Geldpolitik erhöhen. Und schliesslich prüft die EZB neue Assetkäufe. Wir reden hier vor allem über Staatsanleihenkäufe in drei- oder vierstelliger Milliarden-Höhe. Die Märkte haben damit ein umfangreiches expansives Massnahmenpaket zu verarbeiten. Dass die EZB so stark reagiert, ist auf die sich rasant eintrübenden Konjunkturperspektiven für den Euroraum zurückzuführen. Vielleicht droht sogar eine neue Rezession. Die EZB reagiert sozusagen in Echtzeit. Die Frage ist aber, ob die Wirkung der Geldpolitik auch in Echtzeit erfolgt. Die Belastung kommt ja vor allem von der zunehmend protektionistischen Politik her, vor allem aus den USA. Teilweise auch aus Sonderfaktoren in Deutschland, Frankreich und Italien. Aber klar scheint nun, dass wir die Welt negativer Zinsen so bald nicht mehr verlassen werden."

Kai Wohlfarth, Bundesverband deutscher Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR):
"Zwar sendete die EZB in den vergangenen Wochen erste Signale, die Geldpolitik weiter zu lockern, dennoch ist sie ihrer Idee der Senkung des Einlagesatzes heute zurecht nicht gefolgt. Die globalen Handelskonflikte als Konjunkturrisiko im Blick hat die EZB heute aber für die kommenden Notenbanksitzungen die Tür für eine Zinssenkung weit aufgemacht. Es ist zu erwarten, dass es im Herbst noch zu einem Zinsschritt kommt. Wenn die EZB diesen Zinsschritt unternimmt, muss sie der angekündigten Überprüfung von Staffelzinsen zur Entschärfung der Nebenwirkungen Taten folgen lassen, um die Kreditinstitute durch angemessene Freibeträge zu entlasten."

Friedrich Heinemann, ZEW-Institut:
"Es ist zu begrüssen, dass der EZB-Rat nicht jetzt bereits die Leitzinsen weiter gesenkt hat und zunächst eine Reflexionsphase abwartet. Dies wirkt souverän und gelassen. Ein Zinsschritt hätte die Sorge um Europas Konjunktur aufgrund der Signalfunktion möglicherweise sogar noch verschärft. Auch wird eine weitere Absenkung der Zinsen auf die Einlagefazilität dem Bankensystem weiter zusetzen, so dass Überlegungen zur Milderung der Härten negativer Zinsen wichtig sind. Gleichzeitig signalisiert der Rat mit seinem heutigen Statement sehr deutlich, dass die Zinspolitik alleine nicht ausreichen wird, um die Inflationsrate in den gewünschten Bereich zu heben. Neue Wertpapierkäufe werden ausdrücklich als denkbares zusätzliches Instrument genannt. Auch wenn die EZB heute also einen gefährlichen Aktionismus vermieden hat, bleibt die Botschaft unzweideutig: Die EZB wird ihre Politik der Null- und Negativzinsen, wahrscheinlich im Verbund mit neuen Anleihekäufen, noch auf Jahre hinaus weiterführen."

Christian Ossig, BDB-Hauptgeschäftsführer:
"Die EZB muss aufpassen, sich nicht übereilt selbst unter Druck zu setzen: Es ist zwar richtig, dass sie ihre verschiedenen Handlungsmöglichkeiten prüft und betont. Doch angesichts der bereits sehr expansiven Geldpolitik sprechen die Konjunkturdaten keinesfalls zwingend dafür, den Geldhahn - auf welche Weise auch immer - noch weiter aufzudrehen. Im Gegenteil: Die Risiken und Nebenwirkungen der extrem lockeren Geldpolitik würden weiter zunehmen. Und von der Aussicht auf eine Rückkehr in eine normale Zinswelt können wir dann wohl gleich auf mehrere Jahre Abschied nehmen."

(Reuters)