cash.ch: Die Leitzinserhöhungen in den USA und Europa sind mit grosser Wahrscheinlichkeit zu einem Ende gekommen. Was ist Ihre Prognose über das weitere Vorgehen der US-Notenbank Fed und der Europäischen Zentralbank EZB?

Florence Pisani: Die Fed und die EZB werden die Leitzinsen noch für eine Weile hochhalten. Dies solange, bis die Entscheidungsträger davon überzeugt sind, dass die Inflation klar zurückgeht, insbesondere bei den Kerndienstleistungen. Aber ebenfalls klar ist, dass die Zentralbanken mit den Zinserhöhungen am Ende sind.

Wann werden die Zentralbanken die Leitzinsen senken?

Die Fed und die EZB werden sehr vorsichtig dahingehend sein, die Leitzinsen nicht zu schnell zu senken, da die Lage am Arbeitsmarkt angespannt ist und die Inflation weit über dem Zielwert liegt.

Sie sind vorsichtiger als die Märkte...

Wir sind auf kurze Frist vorsichtiger. Wir gehen nicht davon aus, dass die Fed oder die EZB vor dem Sommer die Leitzinsen senken werden. Diese Zurückhaltung ist auch wichtig für die Märkte. Wenn die Zentralbanken zu früh die Zinsschraube lockern und die Inflation höher als erwartet bleibt, entsteht ein Glaubwürdigkeitsproblem und Inflationserwartungen könnten ihren Halt verlieren.

Nicht nur die Inflation, sondern auch das Wirtschaftswachstum bestimmt die Geldpolitik der Zentralbanken. Was ist dort Ihre Einschätzung?

Für die USA sind wir eher optimistisch und erwarten ein «Soft Landing». Das BIP-Wachstum in den USA war mit einer jährlichen Rate von 5,2 Prozent auch im dritten Quartal 2023 überraschend stark. Das liegt weit über der «Geschwindigkeitsbegrenzung» dieser Volkswirtschaft: Die Fed braucht eine Verlangsamung. Wir sind ziemlich überzeugt, dass dies passiert und gehen von einem Wirtschaftswachstum von 1,9 Prozent für das Jahr 2024 aus. Viele Faktoren dürften zu dieser Verlangsamung beitragen. Erstens haben die Bundesstaaten und Kommunen während der Pandemie enorme Transferleistungen von der Bundesregierung erhalten und einen Teil dieser Transferleistungen in diesem Jahr ausgegeben. Zweitens hat das IRA- und das Chip-Gesetz den Bau von Nichtwohngebäuden im verarbeitenden Gewerbe gefördert: Der Bau von Fabriken zur Herstellung von Halbleitern, Batterien ist sprunghaft angestiegen. Auch diese Fördermassnahmen werden im nächsten Jahr auslaufen.

Die grosse Unsicherheit besteht darin, dass sich die hohen Zinsen erst verzögert auswirken...

Die Zentralbanken wiederholen bei jeder Sitzung, dass die Geldpolitik mit langen und variablen Verzögerungen wirkt. Die Intensität der Verlangsamung ist dadurch sehr schwer abzuschätzen.

Niemand redet mehr vom Tapering - die Reduktion der Zentralbankenbilanz durch Wertpapierverkäufe. Warum?

Die Zentralbanken werden in den kommenden Jahren den Umfang ihrer Bilanzen weiter verringern. Aber diese Bilanzanpassung ist nur ein Zeichen dafür, dass sich die Situation normalisiert: Vor einigen Jahren, als die Leitzinsen an der unteren Nullgrenze lagen, hatten die Zentralbanken keine andere Wahl, als massiv langlaufende Anleihen zu kaufen, um die Langfristzinsen zu drücken. Dies ist nun nicht mehr nötig, und die Zentralbanken bauen ihre Anleihebestände langsam ab: Dies wird auch dazu beitragen, die Neigung der Zinskurve zu «normalisieren».

Eine negative Überraschung in den USA ist nicht ausgeschlossen?

Verlangsamende Faktoren sind hier am Werk. Die Banken haben ihre Kreditvergabebedingungen verschärft, die kurzfristigen Zinssätze sind in kurzer Zeit um 525 Basispunkte gestiegen, und auch wenn sie in letzter Zeit etwas zurückgegangen sind, sind die Hypothekenzinsen viel höher als vor einem Jahr. Von den hohen Zinsen wird schlussendlich eine weitergehende Verlangsamung der Wirtschaftsaktivität ausgehen - insbesondere im Immobiliensektor.

Aber was ist mit der negativen Überraschung?

Das wäre ein «boil the frog»-Szenario. Die Idee hinter diesem Begriff: Hält man die Leitzinsen zu lange auf einem zu hohen Niveau, wird man am Ende feststellen, dass die wirtschaftliche Aktivität erstickt wurde. Möglicherweise waren die Zinsen bereits zu lange zu hoch und wir müssen bald feststellen, dass die bremsenden Kräfte zu stark gewesen sind – und dass eine Rezession im Anmarsch ist. Dies ist nicht unser Hauptszenario - die Eintrittswahrscheinlichkeit eines solchen «boil the frog»-Szenarios schätzen wir auf 20 Prozent. Denn wir glauben unter anderem, dass die Konsumenten widerstandsfähig sind: Sie verfügen immer noch über einen gewissen Ersparnisüberschuss, Vermögenseffekte stützen den Konsum und den Grossteil ihrer Verschuldung machen Hypotheken aus, die grösstenteils mit langfristigen festen Zinsen belegt sind. Ihre Hypothekenzinslast wurde daher von den steigenden Zinsen nicht beeinträchtigt.  

Was ist mit Europa, wo doch Deutschland bereits in eine Rezession abgerutscht ist?

Wir sind bezüglich Europa sehr vorsichtig. Das Wachstum war im vergangenen Jahr nahezu gleich Null. Bei Deutschland liegt das reale BIP immer noch 5 Prozent unter dem Trend, der vor Covid vorherrschte. Ein Teil der Erklärung ist, dass die hohen Energiepreise in Europa die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen stark beeinträchtigt haben, besonders in Deutschland. Für die Eurozone insgesamt erwarten wir, dass das Wachstum schwach bleibt, mit 0,5 Prozent in diesem und im nächsten Jahr. Aber wir müssen uns an ein schwaches Wachstumsumfeld gewöhnen, da unser Wachstumspotenzial sehr begrenzt ist. Seit 2015 hat bei der Wirtschaftsleistung pro Arbeitnehmer kein Wachstum stattgefunden, und die Bevölkerung altert rapide. 1 Prozent potenzielles Wachstum pro Jahr ist für den Euroraum wohl das obere Limit.

Stichwort Arbeitsmarkt: Diesbezüglich sieht die Lage in Europa ja nach Hochbetrieb aus?

Die Lage bleibt angespannt. Die Arbeitslosigkeit im Euroraum war noch nie so tief. Unternehmen haben trotz schwachem Wachstum immer noch Probleme, Leute anzustellen. Falls die Löhne weiterhin so schnell wachsen, könnte die EZB gezwungen sein, eine Rezession in Kauf zu nehmen, um die Inflation ihrem 2-Prozent-Ziel näherzubringen. Dies ist aber nicht unser Hauptszenario: Wir erwarten mit 70-Prozentiger Wahrscheinlichkeit ein Szenario mit einem schwachen, aber positiven Wachstum und gehen davon aus, dass die Inflation in den kommenden Monaten nachlässt. Die Inflation bei Kernwaren hat nachgelassen und die Preise von Nahrungsmitteln oder Energieträgern gehen zurück. Und auch wenn sich die Kerninflation bei Dienstleistungen als hartnäckig erwiesen hat, so hat sie doch eindeutig ihren Höhepunkt erreicht und dürfte allmählich sinken. Es spricht daher vieles dafür, dass die Inflation zurückgeht und die EZB die Möglichkeit erhalten wird, die Leitzinsen zu senken, falls sich dieser Abwärtstrend bestätigt.

Aber wird die Inflation trotzdem erhöht bleiben?

Ja, denn es besteht in der Zukunft sowohl in Europa als auch in den USA ein grosser Investitionsbedarf, um die Energiewende zu finanzieren. Negative Zinsen wie vor wenigen Jahren sind Geschichte. Ich denke aber, Zentralbanken werden in der Zukunft Inflationsraten geringfügig über 2 Prozent tolerieren. Die Fed wird beispielsweise eine Inflation von 2,5 Prozent nicht bekämpfen und eine Rezession riskieren.

Hohe Zinsen bedeuten meist sinkende Immobilienpreise, was bereits in Deutschland oder Schweden der Fall ist. Was ist Ihre Prognose?

Investitionen in den Wohnungsbau  werden in der Eurozone weiter zurückgehen. Wir erwarten im Laufe des kommenden Jahres eine Kontraktion von 10 Prozent. Transaktionen bei Wohnungen sind überall zum Stillstand gekommen. In diesem Umfeld werden die Immobilienpreise wahrscheinlich ebenfalls zurückgehen.

Die Staatsverschuldung hat während Covid stark zugenommen. Jetzt sind die Zinsen hoch und die Inflation rückläufig. Ein langfristiges Problem?

Wir denken, dass die Rendite für US-Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit im Jahr 2024 unter 4 Prozent fallen wird. In Europa ist es komplizierter: Es kommen mehr Staatsanleihen auf den Markt, während die EZB weniger kauft und Haushaltsdefizite in einigen Ländern immer noch gross sind. Die Staatsanleiherenditen werden daher in Europa zwar auch fallen, aber in einem geringeren Ausmass als in den USA. Beim deutschen Pendant gehen wir davon aus, dass die zehnjährigen Zinsen sich bis Ende 2024 bei 2,5 Prozent einpendeln. 

Der Verschuldungsgrad stellt dabei kein Problem dar?

Ein hoher Verschuldungsgrad im Verhältnis zum BIP ist per se kein Problem, sondern die Glaubwürdigkeit der Fiskalpolitik. Einige europäische Regierungen - insbesondere Italien, aber auch Frankreich - müssen ihren Haushalt in den kommenden Jahren konsolidieren, um ihren Schuldenstand im Verhältnis zum BIP auf einen nachhaltigen Kurs zu bringen. Der dafür erforderliche Konsolidierungspfad erscheint weitgehend machbar, solang die Konsolidierung schrittweise erfolgt. Aber wenn jetzt alle gleichzeitig und schnell die Fiskalpolitik bei gleichzeitig schwachem Wachstum straffen, ist dies ein Rezept für eine Schuldenkrise. Wir denken, dass die Regierungen sehr darauf bedacht sein werden, die Fehler der Jahre 2011 bis 2013 nicht zu wiederholen.

Schlussendlich muss es aber die Bevölkerung mittragen...

Ja, wenn der Widerstand gegen Sparmassnahmen zu gross oder die Regierung nicht entschlossen genug ist und die Sanierung ihres Haushalts immer wieder verschiebt, dann wird es zum Problem, denn der Markt könnte seine Einschätzung der Tragfähigkeit schnell herabsetzen. Dies ist eine grosse Hürde in einigen europäischen Ländern.

Florence Pisani ist Global Head of Economic Research bei Candriam und bekleidet diese Position seit 2016. Sie kam 2002 als Volkswirtin von der französischen Investmentbank CPR Gestion zu Candriam. Sie ist Mitautorin mehrerer Bücher zu verschiedenen makroökonomischen Themen, die sie zusammen mit ihren Kollegen Anton Brender und Emile Gagna verfasst hat. Florence Pisani hat einen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften von der Universität Paris Dauphine, wo sie ausserdem unterrichtet.

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