cash.ch: Herr Lambrecht, Sie führen ein global tätiges Unternehmen mit 8000 Mitarbeitenden und über einer Milliarde Franken Umsatz. Wie ernst steht es um die Weltwirtschaft und den Welthandel?

Dirk Lambrecht: Eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht. Wir sehen hohe Inflationsraten, gegen welche die Zentralbanken ankämpfen, wenn auch aus meiner Sicht etwas zu spät. In der Ukraine-Krise gibt es zudem sehr viele Fragezeichen, wie es weitergeht. In China hat Covid erheblichen Einfluss auf die Lieferketten. Diese Problematik wird sich auch nicht kurzfristig auflösen, wenn wir sehen, dass viele Containerschiffe vor grossen Häfen liegen. Dieser Effekt wird sich auch noch zeitverzögert auswirken. 

Dätwyler kämpft wie nicht wenige andere Unternehmen mit steigenden Inputkosten - deswegen wurden jüngst ja auch die Jahresziele gesenkt. Wie stellt sich die Lage im Moment dar? 

Wir sind weiterhin vorsichtig. Die Unsicherheiten halten an und die Preise dürften sich auf ihren hohen Niveaus stabilisieren. Auf der positiven Seite: Wir sind trotz schwieriger Rohmaterial-Situation voll lieferfähig. Zumindest dies können wir gewährleisten. Nur, die Kunden insbesondere in der Automobilindustrie können oft nicht die gewohnte Menge abnehmen.

Als Hersteller von Materialien für Dichtungen oder Verschlüsse, die unter anderen bei Autos oder in der Medizin eingesetzt werden, sind Sie Rohstoffkosten ausgesetzt. Mit dem Kerngeschäft Kunststoffe respektive Elastomere dürfte ja der Ölpreis eine Rolle spielen. Könnte Dätwyler mit einem Preis von 150 Dollar pro Fass umgehen? 

Für uns sind sehr viele Rohstoffe wichtig, und auch die Energiepreis-Situation entwickelt sich gerade in Europa dramatisch und hat einen Einfluss auf unsere Kosten. Aber ja, für einen Elastomerverarbeiter wie uns ist natürlich der Ölpreis wichtig. Auch bei einem Ölpreis von 150 Dollar würden wir die Preise weitergeben. Wir haben die entsprechende Preissetzungsmacht, es gibt aber natürlich die zeitliche Verzögerung. Die Preisweitergabe kann sich um bis zu sechs Monate verzögern. 

Aber dies bringt die Marge unter Druck. Bedeutet dies auch Zeitdruck bei der Weitergabe von Preisen?

Strategisch gesehen ändert sich für Dätwyler nichts. Was wir angepasst haben, sind die Zyklen bei der Weitergabe von Kosten. Bisher erfolgte dies ein- bis zweimal im Jahr. Wegen der dieses Jahr sehr steilen Preisanstiege ändern wir die Preise nun eher auf Quartalsbasis.

Haben Sie wegen der höheren Preise Kunden verloren? 

Nein. Wir glauben eher, dass die Situation Dätwyler helfen wird. Kleinere Konkurrenten werden eher unter Druck kommen. Einige unserer Kunden ändern ihre Lieferantenportfolios und gerade im Automotive-Sektor sehen wir überproportionale Zugewinne und Auftragseingänge bei neuen Produktlinien. Dies wird sich aber eher mittelfristig auswirken, also nach 2023. 

Die Senkung der Jahresprognose für die Ebit-Marge von 18 bis 21 auf 13 bis 16 Prozent liegt knapp ein Monat zurück. Genauso wie die Senkung der Umsatzwachstumsprognose auf unter 10 Prozent. Dem zugrunde lag natürlich die Situation des Unternehmens Anfang bis Mitte Mai. Hat sich seitdem die Visibilität zu Marge oder Umsatz verbessert? 

Die Visibilität hat sich nicht gross verändert. Aber die Weitergabe der Kosten an die Kunden geht absolut in die richtige Richtung, und dies wird sich positiv auf das zweite Halbjahr auswirken. Natürlich war der Zeitpunkt der Bekanntgabe unserer ursprünglichen Jahresziele auch etwas unglücklich.

Wie meinen Sie das?

Wir haben die Jahresziele im Februar kurz vor dem Beginn des Ukraine-Krieges bekannt gegeben. Andere Unternehmen haben ihre Zahlen nach Beginn des Krieges vorgestellt und dann gar keine konkreten Angaben zu Jahreszielen mehr gemacht.

Betrifft Dätwyler der Ukraine-Krieg direkt? Oder spürt das Unternehmen eher die Auswirkungen dieses Konflikts? 

Primär sind es die indirekten Folgen. Wir haben zwar ein kleines Werk in der Ukraine und versuchen auch, die dort beschäftigten Mitarbeiter zu halten. Aber unser Markt in der Ukraine, wie auch in Russland, ist sehr klein. 

Mancherorts war man erstaunt, dass die Senkung der Jahresziele für die ganze Gruppe und nicht nur die zyklischen Sektoren erfolgte. Weswegen? 

Die höheren Kosten für Inputfaktoren betreffen alle unsere Business Units, unabhängig von den Zielmärkten. Mit dem Halbjahresbericht am 24. August wollen wir aber eine weitere Indikation geben. 

Lässt sich etwas dazu sagen, wie sich die einzelnen Segmente entwickeln?

Die grössten Themen gibt es wegen den Rückgängen der Produktionsvolumen bei den Automotive Kunden in Europa und China. Dies wirkt sich auch deutlich auf uns aus. Andere Bereiche laufen weiter sehr gut. Wir sind auch schon in der ursprünglichen Prognose vom Februar von einem stärkeren zweiten Halbjahr ausgegangen. Dieses hängt aber auch davon ab, ob die Prognosen unserer Kunden so eintreffen, wie sie uns von diesen genannt worden sind.

Aktionärinnen und Aktionäre von Dätwyler sehen natürlich, dass der Kurs sich nach März 2020 verdreifacht hat, seit Anfang Jahr aber unter Druck ist. In den vergangenen Wochen gehörte Dätwyler gar zu den SPI-Aktien mit dem grössten Kursverlust. Welchen 'Push' kann man von Dätwyler erwarten, der dem Kurs wieder mehr Leben einhauchen könnte? 

Also 'pushen' kann und will ich Aktienkurse in diesem Sinne nicht (lacht). Es ist richtig, der Kurs lief vergangenes Jahr sehr gut. Aber durch zwei Zukäufe dieses Jahr, Yantai in China und QSR in den USA, haben wir weiteren Unternehmenswert geschaffen. Deswegen erstaunt es schon etwas, dass der Kurs so abgefallen ist. Unser grundlegendes Geschäftsmodell und die Wachstumschancen sind intakt. Wir werden die Erwartungshaltungen in Zukunft auch wieder mehr erfüllen können. 

Dätwyler ist landläufig zwar wegen Dichtungen für Nespresso-Kapseln bekannt, aber auch Covid-19 hat 2021 für Fantasie im Kurs gesorgt. Corona war in der Form der Gummistopfen für Impfdosen für Dätwyler ein Gewinntreiber. Corona und die Impfungen sind aber in den Hintergrund getreten: Wie fangen Sie dies auf? 

Auch das mit Covid verbundene Geschäft wächst weiter - natürlich nicht mehr mit den prozentualen Veränderungen vom vergangenen Jahr und unterproportional zu anderen Geschäftsbereichen, aber es wächst. Im zweiten Halbjahr erwarten wir wieder eine Beschleunigung der Impfkampagnen. Interessant wird sein, was in China passiert: Man kommt etwas von der Zero-Covid-Politik ab und muss mehr impfen. Wir zählen in China fast alle Impfstoffhersteller zu unseren Kunden. 90 Prozent der potentiellen Impfstoffhersteller haben wir mit Musterteilen beliefert. 

Was wird darüber hinaus wichtig? 

Unser Geschäftsmodell ist auf Megatrends aufgebaut. Bei Healthcare ist es die alternde Gesellschaft, bei Food & Beverage sehe ich den Trend zu qualitativ hochwertigem Kaffee. Neben Nespresso ist das Unternehmen Capsulin dort ein zweiter, schnell wachsender Kunde für Kaffeekapseln. Mit Healthcare und Food & Beverage sind zwei Drittel unseres Geschäfts wenig zyklisch und verfügt trotzdem über strukturelle Wachstumstrends. 

Der einstige Mischkonzern Dätwyler hat vergangenes Jahr einen Fokussierungsschritt vollzogen, das Distributionsgeschäft ging weg. Geht der Umbau der Gruppe weiter?  

Ein 'Mischkonzern' sind wir schon lange nicht mehr. Unser Geschäft und unsere Kompetenz sind klar systemkritische Elastomerkomponenten für verschiedenste Industrien. Es gibt bereits eine ganz klare Fokussierung, die deutliche Synergien schafft.

Ziemlich genau die Hälfte ihres Umsatzes kam 2021 aus Europa. Mit dem Zukauf des US-Unternehmens QSR oder von Yantai in China verlagern sich die Umsätze mehr nach Nordamerika und Asien. Wie sehen Sie Dätwyler künftig geographisch abgestützt? 

Die Abhängigkeit von Europa möchten wir weiter reduzieren. Gerade in Nordamerika sehen wir noch erhebliches Potential für uns. Mit den Zukäufen und der Transformation von neuen Produktlinien gehen wir in diese Richtung. Grundsätzlich ist die Abhängigkeit von Europa nichts schlimmes, aber wir wollen die Diversifizierung erhöhen. Zudem müssen wir auch noch näher zu den Kunden rücken, die weltweit tätig sind. 

Beim QSR-Kauf gab es teils Kritik am Preis. Können Sie noch günstig zukaufen? 

Wir werden erstmal die getätigten Akquisitionen integrieren. Unsere Ziele bestehen zum einen aus einem höheren organischem Wachstum, zum anderen in Zukäufen. Längerfristig zurückblickend lässt sich sagen, dass die Preise für Zukäufe hochgegangen sind. Und je profitabler ein Unternehmen ist, das man zukaufen will, desto teurer ist es.

Gibt es überhaupt genug Übernahmeziele?

Wir identifizieren immer wieder Unternehmen, die sich eignen würden, vor allem privat gehaltene Firmen. 

Mit dem Ukraine-Krieg sind geopolitische Risiken wieder ein grosses Thema geworden. Führt dies zu einem Umdenken bezüglich der geographischen Expansion? 

Wir versuchen grundsätzlich, den Local-for-Local-Ansatz zu fahren. Wir produzieren in der Region, für die Region. Dies vereinfacht die Logistik. 

Aber wie wir bei Russland gesehen haben, können politische Akte von Regierungen Sanktionen mit sich ziehen. Sehen Sie da ein Risiko für Unternehmen, die beispielsweise in China tätig sind? 

Ich persönlich glaube nicht, dass sich die Weltwirtschaft von China abkoppeln kann. Russland und China sind ganz unterschiedliche Fälle. Generell sind in Asien die Produktionskosten immer noch tiefer als hier. Man wird daher aus Kostengründen die Produktion nicht so einfach nach Europa zurückholen können. 

Also würden Unternehmen auch kriegerische Handlungen Chinas hinnehmen? 

Man schaut auf gewisse Dinge in China seit Jahren kritisch. Die USA haben aber beispielsweise einige Importzölle zurückgenommen. Wirtschaftliche Interessen werden immer eine wichtige Rolle spielen. 

Um nochmals auf das Konjunkturbild zurückzukommen: In welcher Verfassung sehen Sie die Situation in der Schweiz? 

Die Abhängigkeit von Dätwyler zur Schweiz ist sehr klein. Auch ein grosser Teil unseres Nespresso-Umsatzes fällt ausserhalb der Schweiz an. Die Schweizer Marktentwicklung ist eine Frage der Inputkosten, also vor allem Personal und Energie. Bisher hält sich dies im vernünftigen Rahmen. 

Wie ist Ihr persönliches Bild von der Schweizer Konjunktur? Als Mitglied im Vorstand des Industrieverbands Swissmem bekommen Sie sicherlich einiges mit von den Unternehmen.

In der Summe ist die Stimmung in der Industrie weiterhin recht positiv. Ich sehe keine sehr dunklen Wolken am Himmel, wenn ich Kollegen zuhöre. Wichtig ist natürlich, dass der Schweizer Franken nicht noch einmal deutlich aufwertet. Wir sind nahe an der Parität, mit der wir intern ja auch immer rechnen.

Dätwyler rechnet mit der Euro-Franken-Parität?

Nicht dauernd, aber in der jetzigen Situation planen wir mit Szenarien, in denen der Euro-Franken-Kurs die Parität erreichen könnte. 

Würde eine Parität die von Ihnen angestrebte Verbesserung des Geschäfts im zweiten Halbjahr gefährden?

Nein, damit kämen wir klar.

Dirk Lambrecht ist seit 2005 für die Dätwyler-Gruppe tätig und seit Anfang 2017 CEO des Industrieunternehmens. Er ist unter anderem auch Mitglied im Vorstand von Swissmem, dem Verband der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie der Schweiz. Lambrecht hält ein Diplom als Maschinenbauingenieur der Fachhochschule Hamburg und wurde auch an der Management School St. Gallen ausgebildet.

Das Unternehmen Dätwyler stellt Elastomerkomponenten her, die im Gesundheitswesen, dem Autobau, der Lebensmittelindustrie und anderen Industrien verwendet werden. Auch stellt Dätwyler die Alukapseln von Nespresso her.