Das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte im ersten Quartal um 0,3 Prozent und damit das zweite Mal in Folge. Hat Europas größte Volkswirtschaft damit das Schlimmste überstanden? Eher nicht, sagen Ökonomen. Sie rechnen mit einer längeren Flaute oder sogar einer Rezession im Sommerhalbjahr. Was gegen einen Aufschwung spricht:

ZINSERHÖHUNGEN

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat seit Juli 2022 ihre Leitzinsen bereits sieben Mal in rasanter Folge um insgesamt 3,75 Prozentpunkte angehoben, um die Inflation einzudämmen. Zwei weitere Anhebungen werden noch erwartet. "Solchen Zinserhöhungen folgten in der Vergangenheit in Deutschland stets Rezessionen", betont Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. Durchschnittlich drei bis sechs Quartale dauert es demnach von der ersten Zinsanhebung bis zum Beginn einer Rezession.

Die geldpolitische Straffung entfaltet nun allmählich seine volle Wirkung: Kredite sind deutlich teurer geworden, was die Nachfrage drückt. Bestes Beispiel dafür ist die Baubranche: In den ersten drei Monaten dieses Jahres brachen ihre Neuaufträge um knapp ein Fünftel ein, weil viele Projekte wegen des Kostenanstiegs nicht mehr zu stemmen sind. "Das Neugeschäft bricht förmlich ein", sagt Forscher Felix Leiss vom Ifo-Institut.

EXPORTE

Zu Jahresbeginn stützte der Außenhandel die Konjunktur und verhinderte so eine stärkere Rezession, weil die Exporte zulegten. Doch auch hier hat der Gegenwind zugenommen. Die Stimmung in der deutschen Exportindustrie ist aktuell so schlecht wie seit über einem halben Jahr nicht mehr: Das Barometer für die Exporterwartungen fiel im Mai auf 1,8 Punkte von 6,5 Zählern im April, wie das Münchner Ifo-Institut bei seiner Unternehmensumfrage herausfand. "Die weltweiten Zinserhöhungen schlagen langsam auf die Nachfrage durch", sagt der Leiter der Ifo-Umfragen, Klaus Wohlrabe. "Der deutschen Exportwirtschaft fehlt die Dynamik."

INDUSTRIE

Die Hersteller profitierten zuletzt von besser funktionierenden Lieferketten. Bei den Unternehmen hatten sich die Aufträge in den vergangenen Monaten gestapelt, weil diese wegen fehlender Teile und Rohstoffe nicht oder nur langsam abgearbeitet werden konnten. Doch dieser Auftragsstau löst sich dank schrumpfender Materialengpässe mehr und mehr auf, was die Produktion zuletzt stützte. Im ersten Quartal fiel der Bestand bereits um 1,0 Prozent. Chefvolkswirt Thomas Gitzel von der VP Bank blickt daher mit Sorge auf die zweite Jahreshälfte. "Dann sind die Nachholeffekte in der Industrie aufgezehrt", warnt er. "Einen Ausgleich für den zu erwartenden fortgesetzt schwachen privaten Konsum und die angeschlagene Bauwirtschaft gibt es damit nicht mehr."

KONSUM

Ob die deutsche Wirtschaft an einer Sommerrezession vorbeischrammt, hängt nicht zuletzt vom privaten Konsum ab. Wegen der hohen Inflation haben die Verbraucher zuletzt drei Jahre in Folge sinkende Reallöhne hinnehmen müssen. Kein Wunder, dass sie ihre Ausgaben in den beiden zurückliegenden Quartalen merklich einschränkten. Mit aktuell 7,2 Prozent liegt die Teuerungsrate immer noch außergewöhnlich hoch und nagt an der Kaufkraft. "Hohe Preise für die Lebenshaltung verunsichern die deutschen Verbraucher", betonen die Marktforscher der GfK, die im Mai 2000 Konsumenten befragt hat. "Somit bleiben sie weiter überaus zurückhaltend bei ihren Anschaffungen."

FRÜHINDIKATOREN

Umfragen unter Managern, Verbrauchern und Börsianern lassen keine rasche Trendwende erkennen. Im Gegenteil: Das Ifo-Geschäftsklima - der wichtigste Frühindikator für die Entwicklung der deutschen Wirtschaft - trübte sich im Mai erstmals nach sechs Anstiegen in Folge ein. Die GfK-Marktforscher sagen zwar für Juni einen Anstieg ihres Konsumklima-Barometers voraus, doch verharrt es mit minus 24,2 Punkten weiter tief im negativen Bereich. Börsenprofis haben ihre Konjunkturerwartungen für die deutsche Wirtschaft im Mai bereits den dritten Monat in Folge heruntergeschraubt, wie das Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) bei seiner Umfrage unter Analysten und Anlegern herausfand. "Die Finanzmarktexpertinnen und -experten rechnen auf Sicht von sechs Monaten mit einer Verschlechterung der ohnehin nicht guten Konjunkturlage", sagt ZEW-Präsident Achim Wambach. "Die deutsche Wirtschaft könnte dadurch in eine – wenn auch leichte – Rezession rutschen."

EIN LICHTBLICK?

Immerhin: In vielen Branchen wurden inzwischen kräftige Lohnerhöhungen vereinbart. Die 2,5 Millionen Beschäftigten im Öffentlichen Dienst von Bund und Ländern etwa erhalten im Juni eine steuer- und abgabenfreie Sonderzahlung von 1240 Euro. Ihr folgen weitere 220 Euro in den Monaten von Juli bis Februar 2024. Ähnlich sieht die Tarifeinigung für die 160.000 Beschäftigten der Deutschen Post aus. Für die gut 800.000 Beschäftigten in der Leiharbeit gibt es eine zweistufige Lohnerhöhung von bis zu 13 Prozent. Und auch die gut 21 Millionen Rentnerinnen und Rentner bekommen vom Sommer an mehr Geld: Ihre Bezüge werden ab Juli im Westen um 4,39 Prozent und im Osten um 5,86 Prozent angehoben.

"Ab Jahresmitte dürften die verfügbaren Einkommen nach Abzug der Inflation wieder steigen", erwartet deshalb der Chefvolkswirt der Berenberg Bank, Holger Schmieding. Zumal auch die Inflation allmählich nachlassen dürfte.

(Reuters)