Europäer und Amerikaner können über vieles streiten. Über den Sinn von Eiswürfeln in Getränken, die korrekte Teezubereitung und wie viel Ferien man haben sollte. Aber wenn es um die Frage geht, ob man Bargeld auf der Bank liegen lassen oder am Aktienmarkt investieren soll, gibt es keinen Zweifel, wer falsch liegt: Die Spargewohnheiten der Europäer vergrössern die Ungleichheit, machen sie insgesamt ärmer, als sie es sonst wären, und setzen die heimischen Unternehmen auf Kapital-Diät.

Kein Wunder, dass immer mehr Unternehmen in den USA an die Börse streben, in der Hoffnung auf eine bessere Bewertung: Dort sind die «Glorreichen Sieben» und der Rekordstand des S&P 500 salonfähige Gesprächsthemen, während viele Europäer Aktienanlagen mit Glücksspiel gleichsetzen. Die Erosion der Kaufkraft durch Inflation und die Alterung der Bevölkerung in Europa, die die Finanzierung der öffentlichen Renten erschweren wird, unterstreichen die Dringlichkeit, aus Bargeldhortern Anleger zu machen.

Doch zunächst die gute Nachricht. Dank Online-Brokern, kostengünstigen börsengehandelten Fonds und sozialen Medien war es noch nie so einfach, in Aktien oder Anleihen zu investieren und sich in Finanzfragen beraten zu lassen. Die Europäer legen auch einen wesentlich höheren Anteil ihres verfügbaren Einkommens zurück als die Amerikaner.

Das Problem ist, was wir mit dem Geld machen: In Ländern wie Grossbritannien gibt es eine ausgeprägte Neigung, in den Immobilienmarkt zu investieren, manchmal auf Kosten des Erwerbs anderer Vermögenswerte. Und in Ländern wie Deutschland sind die Skepsis gegenüber dem Aktienmarkt und die Risikoaversion tief verwurzelt.

Nur 11 Prozent der Haushalte im Euroraum besitzen direkt börsennotierte Aktien

Das Ergebnis ist, dass die europäischen Haushalte (einschliesslich Grossbritanniens) Ende 2022 fast 14 Billionen Euro in Bargeld und Bankeinlagen hielten, wie aus einer Studie der European Fund and Asset Management Association (Efama) hervorgeht, die letzten Monat veröffentlicht wurde. Diese Barmittel machen laut Eurostat 34 Prozent des gesamten Finanzvermögens der privaten Haushalte in der EU aus; über 40%, wenn illiquide Beteiligungen an nicht börsennotierten Unternehmen herausgerechnet werden, wie es die Efama in ihrer Analyse getan hat.

Einige dieser Ersparnisse wurden angehäuft, als die Menschen während der Pandemie eingesperrt waren, und könnten nun zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrzehnt wieder einen anständigen Zinsertrag abwerfen. Nichtsdestotrotz kann man der Warnung der Efama kaum widersprechen, dass die meisten Europäer «weiterhin einen unverhältnismässig hohen Anteil ihres Geldes in Bankeinlagen halten». Im Gegensatz dazu machen Investmentfonds nur 10,5 Prozent des Finanzvermögens der europäischen Haushalte aus (nach der Definition der Efama), während börsennotierte Aktien weniger als 6 Prozent ausmachen.

Das Engagement der Privatkunden auf den europäischen Kapitalmärkten ist erschreckend gering. Nur 13 Prozent der Haushalte im Euroraum besitzen Investmentfonds, während 11 Prozent direkt börsennotierte Aktien besitzen, so die Erhebungsdaten der Europäischen Zentralbank. Nicht viel besser sieht es in Grossbritannien aus, wo sich die Zahl der Kleinanleger mit direktem Aktienbesitz in den letzten zwei Jahrzehnten auf nur noch 11 Prozent halbiert hat.

Die finanziellen Folgen liegen auf der Hand: Der Wert der Aktien, Investmentfonds, Anleihen, Lebensversicherungen und Pensionsfonds, die von privaten Haushalten gehalten werden, beträgt in der EU nur etwa 90 Prozent des BIP, verglichen mit mehr als dem dreifachen des BIP in den USA und 182 Prozent in Grossbritannien, so die Zahlen der Association for Financial Markets in Europe (Afme) für das erste Halbjahr 2023.

Wenn Haushalte in der Europäischen Union ihre Vermögensallokation ändern und ihren Aktienanteil um bescheidene 5 Prozentpunkte erhöhen würden, könnte dies Kapital in Höhe von 1,8 Billionen Euro für produktive Investitionen freisetzen, errechnete die Denkfabrik New Financial im vergangenen Jahr. Ähnlich könnte Grossbritannien 740 Milliarden Pfund an Kapital freisetzen, wenn die privaten Haushalte ihren Anteil an Aktien und Investmentfonds auf ein Viertel des gesamten Finanzvermögens erhöhen würden.

Amerikaner halten nur 13 Prozent ihres Geldvermögens in bar

Dies könnte auch dazu beitragen, die Ungleichheit zu verringern: Mehr als 80 Prozent der börsennotierten Aktien im Euroraum gehören wertmässig den reichsten 10 Prozent der Haushalte, während die unteren 50 Prozent nur 2 Prozent besitzen, so die EZB.

Amerikaner halten nur 13 Prozent ihres Geldvermögens in bar, etwa die Hälfte in Unternehmensanteilen und Investmentfonds. Mehr als ein Fünftel der US-Familien hält direkt Aktien, und die Gesamtzahl steigt auf 58 Prozent, wenn man indirekte Anlagen wie Rentenkonten mit einbezieht.

Diese Unterschiede sind zum Teil kulturell bedingt und spiegeln auch das weniger grosszügige Sozialversicherungssystem der USA wider, das die Amerikaner dazu zwingt, über steuerbegünstigte 401(k)-Pensionspläne Vermögen aufzubauen. Bundesfinanzminister Christian Lindner sagte letzte Woche auf einer Bloomberg-Veranstaltung, es sei sein «grosser Traum», dass Deutschland individuelle 401(k)-ähnliche Investmentkonten einführt, um einen neuen Staatsfonds zu ergänzen, der ab diesem Jahr jährlich 12 Milliarden Euro in globale Aktien investieren soll. «Das ist ja das Hauptziel: die Kapitalmarktabstinenz der deutschen Bevölkerung zu überwinden», sagte er.

Glücklicherweise ist die Abneigung der Europäer gegenüber Aktienbesitz nicht überall so ausgeprägt. Die nordischen Länder halten relativ wenig Bargeld und haben laut Efama-Analyse einen vergleichsweise hohen Anteil an börsennotierten Aktien und Pensionsfonds.

Wie kann man also die Menschen überzeugen, zu investieren? Neben einem gut ausgebauten Rentensystem kann die Stärkung der Finanzkompetenz helfen, wobei ich skeptisch bin, ob Unterrichtseinheiten über das Wunder des Zinseszinses die Patentlösung sind. Ich bin eher von Massnahmen überzeugt, die die Verbraucher zu Investitionen anregen, ohne dass sie allzu viel darüber nachdenken müssen, und so das Problem der Trägheit überwinden (mit dem ich zugegebenermassen auch zu kämpfen habe).

In Schweden müssen Arbeitnehmer einen Teil ihres Einkommens in eine «Prämienrente» investieren

In Schweden beispielsweise wurde die staatliche Rente vor mehr als zwei Jahrzehnten so reformiert, dass die Arbeitnehmer 2,5 Prozent ihres Einkommens in eine so genannte «Prämienrente» investieren müssen. Wenn der Einzelne nichts anderes angibt, wird das Geld in einen Standardfonds investiert, der zwischen 2000 und 2022 eine durchschnittliche jährliche kapitalgewichtete Rendite von 9,8 Prozent erzielte. In ähnlicher Weise hat Grossbritannien 2012 die automatische Einschreibung in die betriebliche Altersversorgung eingeführt und schreibt seit 2019 einen Mindestbeitrag von 8 Prozent des Einkommens vor; die Zahl der Teilnehmer hat sich zwischen 2011 und 2019 verzehnfacht. Steuereffiziente Anlagekonten wie das schwedische Investeringssparkonto, die italienischen Piani Individuali di Risparmio-Sparpläne oder die britischen Individual Savings Accounts sind ebenfalls eine gute Möglichkeit, die Menschen dazu zu bringen, ihr Geld besser anzulegen.

Um die Ungleichheit zu verringern, bin ich dafür, Kinder mit steuerfinanzierten Treuhandfonds auszustatten, die in einen gut diversifizierten Aktienindex investiert werden. Auf diese Weise können auch ärmere Familien ein Gefühl für den Aktienmarkt bekommen und die Empfänger können die Magie des Zinseszinses direkt beobachten.

Europäer, die ihre gesamten Ersparnisse bei der Bank parken, sind sich der finanziellen Schwierigkeiten, die auf sie zukommen, möglicherweise nicht bewusst. Deshalb sind Rentenübersichten so wichtig, die dem Einzelnen einen klaren Überblick über seine Rentenansprüche aus öffentlichen und privaten Rentenversicherungen geben.

Der erste Schritt zur Überwindung der Sucht besteht darin, zu erkennen, dass man ein Problem hat. Die Bargeldsucht in Europa ist ein grosses Problem.

(Kommentar bon Chris Bryant, Bloomberg)