cash.ch: Herr Krämer, seit fast zwei Jahren erwarten viele Ökonomen eine Rezession in den USA. Wir warten noch immer darauf. Wo ist sie geblieben?

Jörg Krämer: Es deutet weiterhin nichts auf eine unmittelbar bevorstehende Rezession in den USA hin. Die Zahlen zeigen nur eine Verlangsamung der Wirtschaft an, zum Beispiel am Arbeitsmarkt, aber keinen Einbruch. Allerdings ist der Zeitraum zwischen der ersten Zinserhöhung der US-Notenbank und dem Beginn einer Rezession lang und variabel. Es wäre noch im Rahmen des Üblichen, wenn die Rezession erst in der ersten Hälfte des nächsten Jahres einträte. Das prognostizieren wir mittlerweile auch. Wir hatten unsere Rezessionsprognose vor kurzem um ein halbes Jahr nach hinten verschoben. Wir haben aber nicht Abstand genommen von einer Rezession in den USA.

Warum nicht?

In der Wirtschaftsgeschichte ist es nach Zinserhöhungen in den allermeisten Fällen zu einer Rezession gekommen, insbesondere nach einer Inversion der Zinsstrukturkurve.

Die Zinserhöhungen in den USA waren ja auch rasant. Wir verzeichneten im Juli die elfte Zinserhöhung binnen 16 Monaten.

Ja, die waren rasant, zumal einige Zinsschritte ungewöhnlich gross waren. All das spricht dafür, dass es in der ersten Hälfte des nächsten Jahres zumindest zu einer milden Rezession kommt.

Ist die Unsicherheit wegen einer Rezession auch bei der US-Notenbank Federal Reserve spürbar? Sie lässt die Märkte derzeit im Ungewissen über den künftigen Zinskurs.

Eine gewisse Richtung gibt die Fed schon. Grundsätzlich schliesst sie nicht aus, dass sie den Leitzins nochmals erhöht, wenn die Daten es erfordern. Wir selbst rechnen aber nicht mit einer weiteren Zinserhöhung, weil die Inflation in den USA weiter zurückgehen wird und sich die konjunkturellen Abschwächungssignale verstärken dürften.

Die Kerninflation in den USA beträgt noch immer 4,7 Prozent und ist weit vom Fed-Ziel von 2 Prozent entfernt. Wie gelingt es der Fed, dieses Ziel zu erreichen, zumal in den USA noch immer Vollbeschäftigung herrscht mit entsprechend hohem Lohnniveau?

Die Kerninflation in den USA ist schon deutlich gefallen – von 6,6 Prozent im September 2022 auf die von Ihnen erwähnten 4,7 Prozent. Schaut man sich die Verbraucherpreise aber nicht im Vorjahresvergleich an, sondern im Vergleich zum Vormonat, dann fällt der Rückgang noch stärker aus. So sind die Verbraucherpreise ohne Energie und Nahrungsmittel im Juli verglichen mit Juni nur 0,2 Prozent gestiegen an, ähnlich niedrig war der Anstieg im Juni gegenüber Mai. Das geht teilweise auf eine Entspannung bei den Lieferketten zurück, die die Inflation bei den Konsumgütern sinken lässt. Ausserdem hat die Inflation bei Energie und Nahrungsmitteln abgenommen. Bei Dienstleistungen steigt die Teuerung zwar noch etwas, allerdings deuten viele Indikatoren darauf hin, dass sich der Anstieg der Mieten in den USA deutlich verlangsamen wird. Und die Mieten machen mehr als die Hälfte der Dienstleistungsinflation aus.

Die Renditen auf den zehnjährigen US-Staatsanleihen sind auf einem 15-Jahres-Hoch. Werden die Leitzinsen auf längere Zeit auf einem erhöhten Niveau bleiben?

Die Renditen der US-Staatsanleihen dürften in der zweiten Jahreshälfte vermutlich sinken. Denn die Fed wird ihre Zinsen wohl nicht weiter anheben und gegen Jahresende dürfte sich eine Rezession abzeichnen. Deshalb dürfte die Fed ihre Zinsen ab dem Frühjahr auch senken. Aber im weiteren Verlauf des kommenden Jahres dürften die Anleiherenditen wohl wieder steigen, weil es die US-Notenbank wohl schaffen wird, die Inflation nachhaltig auf das Ziel von zwei Prozent zu drücken.

Was bedeutet das für das Wirtschaftswachstum in den USA mit Blick auf 2024?

Wegen der Rezession im ersten Halbjahr erwarten wir für den Durchschnitt des kommenden Jahres nur ein geringes Wachstum von 0,3 Prozent.

Die Fed hat bei der Entstehung der Inflation sehr lange tatenlos zugesehen. Hat sie mit der Bekämpfung der Teuerung nun insgesamt einen besseren Job gemacht?

Alle Zentralbanken, nicht bloss die Fed, wurden bei der Einschätzung der Inflation auf dem falschen Fuss erwischt. Immerhin hat die Fed früher reagiert als die Europäische Zentralbank und hat ihre Zinsen stärker erhöht.

Die EZB habe mit dem Zögern bei den Zinserhöhungen lange Rücksicht genommen auf die Staaten mit hoher Verschuldung, sagten Sie im letzten Jahr im cash.ch-Interview. Ist Ihre Wahrnehmung immer noch dieselbe?

Das Inflationsproblem war so dominierend in letzter Zeit, dass auch die vielen 'Tauben' im EZB-Rat höheren Leitzinsen zugestimmt haben. Aber wir treten nun in eine andere Phase ein. Die EZB hat ihren Autopiloten auf der Juli-Sitzung abgestellt, indem sie nicht mehr automatisch höhere Zinsen in Aussicht gestellt hat. Mittlerweile plädieren viele Tauben gegen weitere Zinserhöhungen. Denn die jüngsten Konjunkturdaten, zum Beispiel der Einkaufsmanagerindex im Dienstleistungsgewerbe, sind schlecht ausgefallen. Daher erwarten wir, dass die EZB die Zinsen im September wohl nicht mehr erhöht.

Die Wirtschaft Deutschlands befindet sich seit Anfang 2023 in einer milden Rezession, der konjunkturelle Abschwung setzte aber schon früher ein. Ein Kollege von Ihnen hat Deutschland als 'neuen kranken Mann Europas' bezeichnet. Ist das zutreffend oder einfach nur zu sehr zugespitzt?

Natürlich ist es zugespitzt, aber es ist etwas dran an der Aussage. Deutschland ist seit 2017 die am schwächsten wachsende Volkswirtschaft im Euroraum. Da gibt es harmlose und weniger harmlose Gründe dafür. Die harmlosen: Wir hatten uns vor 2017 viel besser entwickelt als der Rest des Euroraums, so dass Arbeitskräfte in Deutschland schneller knapp wurden und die Produktion jetzt beschränken. Insofern wurden wir Opfer des eigenen Erfolges. Deutschland kann auch nichts daran ändern, dass China langsamer wächst und die deutsche Wirtschaft mit ihrem hohen China-Anteil davon stärker betroffen ist als andere Länder.

Und die weniger harmlosen Gründe für den Abschwung in Deutschland?

In den letzten 15 Jahren haben sich die Indikatoren für die Qualität des Wirtschaftsstandorts Deutschland kontinuierlich verschlechtert. Ich habe schon vor Jahren gewarnt, dass wir durch den Stillstand in den langen Jahren der Merkel-Ära zurückfallen. Mittlerweile leiden die Unternehmen unter schlechten Strassen, Brücken, Eisenbahnverbindungen und Schulen sowie unter Bürokratie, langsamen Genehmigungsverfahren, einer schlechten digitalen Infrastruktur und unter vergleichsweise hohen Unternehmenssteuern und sehr hohen Strompreisen. Viele Mittelständler sind frustriert.

Die Folge wäre, dass sich die Unternehmen anderswo umschauen…

So ist es. Ich höre aus vielen Gesprächen mit Mittelständlern, dass sie sich woanders umschauen. Wir haben unglaublich viele gute Mittelständler mit fleissigen und kompetenten Mitarbeitern. Die meisten dieser Firmen wollen keine Subventionen, sondern endlich bessere Rahmenbedingungen für alle. Aber leider reisst die Bundesregierung das Steuer nicht beherzt herum. Deutschland dürfte dem Rest des Euroraums noch lange hinterherhinken.

Ist die gegenwärtige Rezession in Deutschland eine Erkältung oder eher eine Grippe?

Gute Frage… (überlegt). Es ist eine Erkältung, die in eine Grippe umzuschlagen droht. Die Erkältung liegt hinter uns, dies war die Schrumpfung der Wirtschaft im Winterhalbjahr. Nun sehen wir, dass die Frühindikatoren regelrecht eingebrochen sind.

Nochmals kurz zum Thema Teuerung: Viele Konsumenten werfen den Unternehmen angesichts massiv gestiegener Preise 'Gierflation' vor…

(unterbricht)… Ach, da halte ich wenig davon. Das Thema wird gehypt und skandalisiert. Stattdessen müssen wir uns klarmachen, dass hinter uns ein starker Anstieg der Energie- und Materialpreise liegt. Unternehmen und Arbeitnehmer haben dadurch an Kaufkraft verloren. Beide Gruppen wollen diesen Verlust wettmachen, indem sie versuchen, ihre Einkommen, also die Gewinne und die Löhne, zu erhöhen. Das ist ganz normal, und das ist auch passiert: Ein Drittel der höheren Inflation ging im ersten Halbjahr auf höhere Gewinne zurück. Das wird sich aber ändern. Denn mit einer Rezession sinken üblicherweise die Gewinne. Dagegen dürften die Löhne weiter steigen; Lohninflation löst Gewinninflation ab.

Jörg Krämer (geb. 1966) ist seit 2006 Chefökonom und Leiter Research bei der Commerzbank, Deutschlands zweitgrösster Bank. Der promovierte Volkswirtschaftler arbeitete nach seiner Ausbildung an der Universität Münster und am Kieler Institut für Weltwirtschaft bei Merrill Lynch, bei Invesco und bei der Bayerischen Hypo- und Vereinsbank.

 

Daniel Hügli
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