cash.ch: Herr Koudelka, vor fünf Jahren sagten Sie in einem Interview, dass der Markt immer auf der Suche nach Innovationen und State Street dabei an vorderster Front sei. Was war Ihr Beitrag dazu?

Frank Koudelka: Wir denken ständig darüber nach, wohin sich die Branche entwickelt. So haben wir vor ein paar Jahren Charles River Development übernommen, ein Front-Office-Softwareunternehmen. Und das verschaffte uns, einem grossen Back- und Middle-Office-Anbieter, einzigartige Perspektiven aus dem Front-Office.

Inwieweit?

Historisch gesehen machten sich die Kunden oft wegen des Front-Offices Sorgen. Wir hatten uns bis dato dazu keine grossen Gedanken gemacht. Aber nach der Übernahme von Charles River begannen wir, uns vertiefter damit zu befassen, wie Kunden ihre Software besser nutzen können – und haben dann Front-, Middle- und Backoffice integriert. Es gibt also eine End-to-End-Sicht, und diese Integration hat die Geschäftsabwicklung für Kunden effizienter gemacht. Die Übernahme von Charles River hat es uns ermöglicht, eine ganzheitliche Sichtweise einzunehmen.

Können Sie einige Ihrer wichtigsten persönlichen Erfolge nennen?

Die erst kürzlich eingeführte Transaktionsabwicklung innerhalb eines Tages – sogenannte T+1-Abwicklungen – stellte die US-Finanzindustrie vor grosse Herausforderungen. State Street erkannte schon viel früher, vor der offiziellen Einführung, dass die Umstellung auf T+1 auf der Market-Making-Seite des Geschäfts führen würde. Also haben wir die ETF-Branche dazu gedrängt, auf die Echtzeitabwicklung umzusteigen – T+0 also. Es ging wirklich nicht um unsere Rolle als Administrator, sondern um die gesamte Branche und die Spannungen, die entstanden wären, wenn alle am gleichen Tag auf T+1 umgestellt hätten. Beispielsweise hätten sich die Spreads ausgeweitet, weil die Market Maker über Nacht Bestände gehalten hätten.

State Street versteht sich als Marktführer in der ETF-Branche. Doch wie stark ist die Konkurrenz wirklich?

Die Konkurrenz ist sehr stark. Wir sind führend und die Kunden vertrauen uns, aber es gibt sehr viele gute Konkurrenten. Daher müssen wir um jedes Geschäft kämpfen, das wir abschliessen wollen.

Erwarten Sie, dass die Gebühren aufgrund des harten Wettbewerbs in den nächsten Jahren noch weiter sinken werden?

Ich denke, die Gebühren kennen nur eine Richtung: nach unten. Wenn man sich die passiven Produkte anschaut, sind sie teilweise schon bei null - und ich denke, dass die Entwicklung insgesamt abwärts zeigt. Allerdings wird es eine Untergrenze geben, die leicht über null liegt - gerade, wenn Sie Investmentteams haben, das tatsächlich Entscheidungen trifft.

Welche weiteren wichtigen Trends prägen derzeit die Branche?

ETF erfinden sich immer wieder neu. In der Vergangenheit handelte es sich um passive Vehikel, die lediglich einem Index folgten. Die Branche durchläuft derzeit eine Expansion ins aktive Management und die privaten Märkte. Kunden werden dabei eine Vielzahl an neuen Daten benötigen. Mehr Echtzeitinformationen in den privaten Märkten sind ein Beispiel. Da sich ihre Portfolios von Tag zu Tag ändern können, derzeit aber zu wenig Echtzeitinformationen verfügbar sind, müssen wir erfinderisch werden. Gleichzeitig ist es von entscheidender Bedeutung, Systeme schlanker und effizienter zu machen, damit unsere Kunden am Wachstum des Marktes teilhaben können.

Aktive ETF-Strategien erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Was sind die Gründe?

In der Vergangenheit galten ETF als passive Vehikel und wurden als Gegenstück zu Investmentfonds angesehen, die als aktiv galten. Das ist eine falsche Prämisse, denn ETF sind lediglich Anlagehüllen. Das Konstrukt schafft Effizienz, gibt jedoch keinen Hinweis auf die Anlagestrategie. Erstens werden sie an der Börse gehandelt. Der Zugang ist deshalb relativ einfach. Solange Sie als Anleger Zugang zu einem Broker haben und den Ticker kennen, können Sie den ETF überall handeln. Zweitens sind die Kosten erheblich tiefer. Investmentfonds werden auf dem Primärmarkt gehandelt. Dort werden die Kosten von jeder neuen Transaktion eines Marktteilnehmers beeinflusst, was die Fondsstruktur verteuert. Dieser Effizienzvorteil von ETF gegenüber Investmentfonds führt zudem zu einer besseren Performance. Ausserdem werden ETF gegenüber Investmentfonds bevorzugt, weil sie mehr digitalen Plattformen – und damit Broker – zur Verfügung stehen.

Welche Chancen für Investoren sehen Sie?

Abgesehen von geringeren Kosten und mehr Effizienz: Anleger haben jetzt die Wahl. Sie können – wie bisher – einen passiven ETF kaufen. Oder sie kaufen einen aktiv verwalteten ETF. Das aktive Anlagesegment verfügt über eine Vielzahl von unterschiedlichen Strategien. Viele davon sind nicht nur darauf ausgelegt, eine Benchmark zu übertreffen. Dividendenstrategien oder Optionsstrategien, bei denen beispielsweise das Verlustpotenzial begrenzt ist, sind besonders in volatilen Märkten für Anleger interessant. Die Vielzahl an unterschiedlichen Produkten und Wahlmöglichkeiten sind dabei der grösste Mehrwert, den ETF schaffen.

Warum sollten Anleger bei aktiven ETF vorsichtig sein?

Sie sollten bei jeder Investition vorsichtig sein: sich ihrer Risikotoleranz bewusst sein; sich die Dokumente ihres Produkts ansehen; verstehen, in was sie investieren; mit der Strategie vertraut sein; und an den Ruf und die Fähigkeiten des Produkts sowie des Investmentteams glauben. Märkte fallen, Märkte steigen. Sie können versuchen, das zeitlich zu antizipieren – was aber extrem schwierig ist. Daher ist es ratsamer, über einen längeren Zeitraum zu investieren.

Die Branche fokussiert sich derzeit auf den Ausbau von Privatmarkt-ETF. Was sind die Schlüsselfaktoren für den Erfolg?

Es ist alles eine Frage der zugrunde liegenden Liquidität. Wir haben uns schon in den Anfängen von Anlageklassen wie festverzinslichen Wertpapieren damit auseinandergesetzt. Der Markt für festverzinsliche Anleihen schien undurchschaubar. Wie soll man dafür einen Echtzeitpreis erhalten? Der ETF-Markt war der Schlüssel. Und tatsächlich wurden Renten-ETF zu einem Instrument der Preisfindung für die zugrunde liegenden Anleihen. Ich denke darum, dass die Vermögensverwalter heute ein Konzept im Kopf haben sollten: Sie müssen zur Preisfindung innerhalb ihrer Strategie ähnlich vorgehen wie damals bei den festverzinslichen Wertpapieren.

Wie sehen Sie die Entwicklung der ETF-Landschaft in den nächsten 5 bis 10 Jahren?

Ich bin ziemlich sicher, dass jeder Fondsmanager eine ETF-Strategie anbieten und die gesamte Branche vermehrt mit diesem Konstrukt arbeiten wird. Ein Grossteil der aktiven ETF befinden sich in Nordamerika. Aber die Entwicklung kommt nach Europa – denn dieselben Firmen, die erfolgreich auf den nordamerikanischen Märkten gestartet sind, sehen Europa als den nächsten wichtigen Markt. Darüber hinaus werden Vermögensverwaltungsfirmen neben ETF auch Investmentfonds anbieten. Sie haben also unterschiedliche Vehikel für unterschiedliche Anlegertypen. Investoren können den Investmentfonds kaufen, sie können den ETF kaufen, sie könnten möglicherweise separat verwaltete Konten oder variable Annuitäten kaufen – kurzum: Anleger haben Wahlfreiheit und können von der Strategie profitieren, von der sie glauben, dass sie auf dem Markt erfolgreich sein wird.

Frank Koudelka leitet den Bereich ETF-Solutions der amerikanischen Vermögensverwalters State Street. Dieser gehört zu den grössten Asset Managern weltweit und ist im ETF-Geschäft führend. Koudelka hat rund vier Jahrzehnte Erfahrung in der Finanzdienstleistungsbranche. Seine Ausbildung schloss er mit einem Bachelor-Titel in Finance an St. John’s University in New York ab.

Reto Zanettin
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