Die Kater-Stimmung in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft verschlechtert sich weiter. Der vierte Rückgang in Folge des wichtigsten Konjunkturbarometers signalisiert, dass Deutschland wieder in die Rezession rutschen könnte. Denn das Ifo-Geschäftsklima sank im August stärker als erwartet um 1,7 auf 85,7 Punkte, wie das Münchner Ifo-Institut am Freitag zu seiner monatlichen Umfrage unter rund 9'000 Führungskräften mitteilte. «Die Durststrecke der deutschen Wirtschaft verlängert sich», sagte Ifo-Präsident Clemens Fuest. Die Firmen waren mit den laufenden Geschäften unzufriedener und bewerteten auch ihre Aussichten skeptischer. Commerzbank-Chefökonom Jörg Krämer sieht den Index als «klares Rezessionssignal».
Die Firmen beurteilten ihre aktuelle Geschäftslage sogar so schlecht wie seit August 2020 nicht mehr, als Deutschland konjunkturell schwer mit der Corona-Krise zu kämpfen hatte. «Der deutsche Konjunkturmotor stottert weiter stark», sagte Ifo-Konjunkturexperte Klaus Wohlrabe im Reuters-Interview. Vor allem Industriebetriebe klagten über fehlende Neuaufträge. Zudem greift die Schwäche im Verarbeitenden Gewerbe immer stärker auf Dienstleister und den Bau über.
Dementsprechend ernüchtert kommentierten Fachleute die Ifo-Daten: «Deutschland in konjunktureller Abwärtsspirale», «Wirtschaft im Sinkflug», «Tritt in die Magengrube», «Weitere Konjunkturklatsche». Der Tenor ist eindeutig, obwohl das Statistische Bundesamt kurz zuvor noch bestätigt hatte, dass die Wirtschaft im Frühjahr immerhin nur stagnierte und nicht wie noch Ende 2022 und Anfang 2023 schrumpfte. «Nach den leichten Rückgängen in den beiden Vorquartalen hat sich die deutsche Wirtschaft im Frühjahr stabilisiert», sagte die Präsidentin des Statistikamts, Ruth Brand. Die Ausgaben der privaten Haushalte blieben trotz Inflation auf dem Niveau des ersten Quartals. Die Exporte sanken um 1,1 Prozent, während die Importe stagnierten.
Stagnation nur eine Atempause vor Rückfall in Rezession
Die Ifo-Umfrage sei aber ein Ausdruck einer sich verfestigenden Negativstimmung, sagte Analyst Elmar Völker von der LBBW. Nicht nur die Lage habe sich spürbar verschlechtert, sondern auch die ohnehin bereits düsteren Erwartungen seien «noch ein Stück schwärzer» geworden. «Immer mehr spricht dafür, dass die Stagnation der Wirtschaftsleistung vom Frühjahr nur eine Atempause vor dem Rückfall in die Rezession gewesen ist.» Commerzbanker Krämer betonte: «Ich erwarte für das zweite Halbjahr mehr denn je ein Schrumpfen der deutschen Wirtschaft.» Deshalb werde die Europäische Zentralbank (EZB) auf ihrer nächsten Sitzung im September wohl ihre Leitzinsen nicht noch einmal erhöhen. Auch mehrere mit den Diskussionen der EZB-Spitze vertraute Personen sagten der Nachrichtenagentur Reuters, die Wahrscheinlichkeit einer Zinspause nehme zu, auch wenn die Debatte noch nicht abgeschlossen sei.
Andreas Scheuerle von der DekaBank erklärte, man müsse keine starke Rezession fürchten. «Es ist das konjunkturelle Siechtum, eine lange Phase leblosen Wachstums um die Nulllinie herum.» Die Lösung seien aber nicht neue Konjunkturspritzen. «Die deutsche Volkswirtschaft muss – wie vor 20 Jahren – mit Reformen wieder fit für die Zukunft gemacht werden.» Sebastian Dullien vom gewerkschaftsnahen IMK-Institut rechnet mit einer sogenannten «double dip recession» - also, dass die Wirtschaftskraft nach nur vorübergehender Stabilisierung wieder fällt. Experten dürften deshalb ihre Prognosen für 2024 bald senken. «Es wäre gut, wenn die Bundesregierung die schwierige konjunkturelle Situation stärker zur Kenntnis nehmen würde.»
Wohnungsbau weiter im freien Fall
Bundesfinanzminister Christian Lindner erklärte, neue Impulse für die Wirtschaft seien wichtiger denn je. «Für eine Trendwende brauchen wir eine umfassende Agenda für neue Wettbewerbsfähigkeit», betonte der FDP-Chef auf dem Kurznachrichtendienst X, ehemals Twitter.
Das Baugewerbe erhofft sich bis Ende September konkrete Signale, wie die Politik der schwächelnden Branche über den Einbruch des Wohnungsbaus hinweghelfen kann. Die Aufträge sanken im ersten Halbjahr binnen Jahresfrist - um steigende Baupreise bereinigt - real um 12,8 Prozent und nominal um 2,2 Prozent. Wie das Statistikamt weiter mitteilte, fielen die Umsätze inflationsbereinigt um 5,5 Prozent. «Der Wohnungsbau befindet sich weiter im freien Fall», sagte Hauptgeschäftsführer Tim-Oliver Müller vom Hauptverband der Deutschen Bauindustrie. «Wenn nicht bald gegengesteuert wird, entwickelt sich die Wohnungsfrage zum sozialen Sprengstoff.»
(Reuters)