06. Apr (Reuters) - Der Gazastreifen liegt im Südosten des Mittelmeeres an uralten Handels- und Seerouten. Seit Tausenden von Jahren ist der Küstenstreifen bewohnt und vielfach umkämpft - ägyptische Pharaonen herrschten dort, Babylonier, Philister und Alexander der Grosse, der Gaza-Stadt belagerte und eroberte, die Männer tötete und Frauen und Kinder versklavte. Aufgrund seiner Lage nahe der Grenze zwischen Asien und Afrika entwickelte sich das Küstengebiet im Altertum zu einem blühenden Handelszentrum und war Teil des Philisterbundes aus fünf Städten entlang der Küstenebene. Das Gebiet spielt in biblischen Berichten eine wichtige Rolle, etwa in den Schlachten von König David. In späteren Jahrhunderten eroberten Römer, Mongolen, Kreuzfahrer und Napoleon das Land. Das Christentum verbreitete sich – noch heute existiert dort eine kleine christliche Gemeinde – und vor 1400 Jahren drangen muslimische Armeen in das Land ein.

Vom 16. Jahrhundert bis 1917 gehörte der Gazastreifen die meiste Zeit zum Osmanischen Reich und wurde im Ersten Weltkrieg von britischen Truppen eingenommen. Anschliessend wurde er Teil des britischen Mandatsgebiets Palästina. Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts gelangte das Gebiet unter britische, ägyptische sowie israelische Militärherrschaft und ist heute eine abgeriegelte Enklave, in der rund 2,3 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser leben, die meisten von ihnen Flüchtlinge. Im Folgenden einige der wichtigsten Etappen der jüngeren Geschichte des Gazastreifens.

1948 - Ende der britischen Herrschaft

Als die britische Kolonialherrschaft in Palästina Ende der 1940er Jahre endete, verschärfte sich die Gewalt zwischen Juden und Arabern. Sie gipfelte im Mai 1948 im Krieg zwischen dem neu gegründeten Staat Israel und seinen arabischen Nachbarn. Zehntausende Palästinenser suchten Zuflucht im Gazastreifen, nachdem sie geflohen oder aus ihren Häusern vertrieben worden waren. Die Massenvertreibung bezeichnen die Palästinenser als Nakba - Arabisch für Katastrophe. Die einfallende ägyptische Armee hatte einen schmalen 40 Kilometer langen Küstenstreifen erobert, der von der Halbinsel Sinai bis knapp südlich von Aschkelon reichte. Durch den Zustrom von Flüchtlingen verdreifachte sich die Bevölkerung auf rund 200.000.

Ägyptische Militärherrschaft

Ägypten hielt den Gazastreifen zwei Jahrzehnte lang unter einem Militärgouverneur und erlaubte den Palästinensern, in Ägypten zu arbeiten und zu studieren. Bewaffnete palästinensische Fedajin (auf Deutsch etwa «die sich Opfernden»), viele von ihnen Flüchtlinge, griffen Ziele in Israel an. Es folgten Vergeltungsmassnahmen.

Die Vereinten Nationen gründeten das Flüchtlingshilfswerk UNRWA, das heute 1,6 Millionen registrierte palästinensische Flüchtlinge im Gazastreifen sowie Palästinenser in Jordanien, im Libanon, in Syrien und im Westjordanland betreut.

1967 - Krieg und israelische Militärbesetzung

Israel eroberte den Gazastreifen im Nahostkrieg von 1967. Eine israelische Volkszählung in diesem Jahr ergab, dass das Gebiet 394.000 Einwohnerinnen und Einwohner hatte, mindestens 60 Prozent von ihnen waren Flüchtlinge.

Nach dem Abzug der Ägypter nahmen viele palästinensische Arbeiter Jobs in der Landwirtschaft, im Baugewerbe und Dienstleistungssektor innerhalb Israels an, zu denen sie damals leichten Zugang hatten. Israelische Truppen verwalteten das Gebiet und bewachten die jüdischen Siedlungen, die Israel in den folgenden Jahrzehnten errichtete. Diese wurden zu einer Quelle wachsender palästinensischer Ressentiments.

1987 - Erste Intifada und Gründung der Hamas

Zwanzig Jahre nach dem Krieg von 1967 starteten die Palästinenser ihre erste Intifada, ihren ersten Aufstand. Sie begann im Dezember 1987 nach einem Verkehrsunfall, bei dem ein israelischer Lastwagen mit einem Fahrzeug kollidierte, das palästinensische Arbeiter im Flüchtlingslager Dschabalja transportierte. Vier von ihnen starben. Es folgten Proteste, bei denen Steine geworfen wurden, und Streiks.

Die in Ägypten beheimatete Muslimbruderschaft nutzte die aufgebrachte Stimmung und gründete einen bewaffneten palästinensischen Zweig, die Hamas, mit Machtbasis im Gazastreifen. Die Hamas, deren Ziel die Zerstörung Israels und die Wiederherstellung der islamischen Herrschaft in dem von ihr als besetzt betrachteten Palästina war, wurde zum Rivalen von Jassir Arafats säkularer und gemässigter Fatah-Partei, die die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) anführte.

1993 - Osloer Friedensabkommen und Teilautonomie

Israel und die Palästinenser unterzeichneten 1993 ein historisches Friedensabkommen, das zur Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde führte. Im Rahmen des Übergangsabkommens erhielten die Palästinenser zunächst begrenzte Kontrolle über Gaza und Jericho im Westjordanland. Arafat kehrte nach Jahrzehnten im Exil in den Gazastreifen zurück.

Der Oslo-Prozess gab der neu geschaffenen Palästinensischen Autonomiebehörde eine gewisse Selbstbestimmung und sah die Eigenstaatlichkeit nach fünf Jahren vor. Doch dazu kam es nie. Israel warf den Palästinensern vor, Sicherheitsabkommen nicht einzuhalten. Die Palästinenser waren über den anhaltenden israelischen Siedlungsbau auf ihrem Gebiet empört.

Die Hamas und der ebenfalls radikale Islamische Dschihad versuchten, mit Bombenanschlägen den Friedensprozess zu gefährden. Daraufhin schränkte Israel die Bewegungsfreiheit der Palästinenser aus dem Gazastreifen heraus weiter ein. Die Hamas reagierte auch auf die wachsende palästinensische Kritik an Korruption, Vetternwirtschaft und Misswirtschaft im inneren Zirkel Arafats.

2000 - Zweite Intifada

Im Jahr 2000 erreichten die israelisch-palästinensischen Beziehungen mit dem Ausbruch der zweiten Intifada einen neuen Tiefpunkt. Sie läutete eine Zeit der Selbstmordattentate und bewaffneten Angriffe durch Palästinenser sowie israelischer Luftangriffe, Zerstörungen, Sperrzonen und Ausgangssperren ein.

Ein Opfer war der internationale Flughafen des Gazastreifens - der einzige in den Autonomiegebieten und in der Nähe von Rafah im Süden des Gazastreifens gelegen. Er ist ein Symbol für die gescheiterten palästinensischen Hoffnungen auf wirtschaftliche Unabhängigkeit und war die einzige direkte Verbindung der Palästinenser zur Aussenwelt, die nicht von Israel oder Ägypten kontrolliert wurde. Der 1998 eröffnete Flughafen wurde von Israel als Sicherheitsbedrohung angesehen. Es zerstörte die Radarantenne und Landebahn wenige Monate nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf die USA.

Ein weiteres Opfer war die Fischereiindustrie, eine Einnahmequelle für Zehntausende Palästinenser. Die israelische Regierung verkleinerte die Fischereizone des Gazastreifens. Die Einschränkung sei notwendig, um Waffenschmuggelboote zu stoppen, argumentierte sie.

2005 - Israel räumt seine Siedlungen im Gazastreifen

Im August 2005 zog Israel all seine Soldaten und Siedler aus dem Gazastreifen ab, der zu diesem Zeitpunkt von der Aussenwelt vollständig abgeschottet war. Die Palästinenser rissen die verlassenen Gebäude und die Infrastruktur ab. Die Räumung der Siedlungen führte zu grösserer Bewegungsfreiheit innerhalb des Gazastreifens. Eine regelrechte «Tunnelwirtschaft» florierte, als bewaffnete Gruppen, Schmuggler und Unternehmer in kürzester Zeit Dutzende von Tunneln nach Ägypten gruben.

Durch den Abzug Israels wurden auch Fabriken, Gewächshäuser und Werkstätten aus den Siedlungen zerstört, in denen einige Palästinenser beschäftigt waren.

2006 - Isolation unter der Hamas

Im Jahr 2006 errang die Hamas einen Überraschungssieg bei der palästinensischen Parlamentswahl und übernahm die vollständige Kontrolle über den Gazastreifen, nachdem sie die Truppen von Arafats Nachfolger, Präsident Mahmud Abbas, in einem kurzen Bürgerkrieg besiegt hatte.

Grosse Teile der internationalen Gemeinschaft kürzten die Hilfe für die Palästinenser in dem von der Hamas kontrollierten Gebiet, weil sie sie als Terrororganisation einstuften.

Israel hinderte Zehntausende palästinensische Arbeiter daran, ins Land zu kommen, und schnitt ihnen damit eine wichtige Einnahmequelle ab. Israelische Luftangriffe legten das einzige Elektrizitätswerk im Gazastreifen lahm, grossflächige Stromausfälle waren die Folge. Aus Sicherheitsgründen verhängten Israel und Ägypten zudem strengere Beschränkungen für den Personen- und Warenverkehr über die Grenzübergänge zum Gazastreifen.

Die ehrgeizigen Pläne der Hamas, den wirtschaftlichen Schwerpunkt des Gazastreifens von Israel abzuwenden, scheiterten, bevor sie überhaupt begonnen hatten.

Der vom Militär unterstützte ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi, der 2014 an die Macht kam, sah in der Hamas eine Bedrohung. Er liess die Grenze zum Gazastreifen schliessen und die meisten Tunnel sprengen. Der Streifen war damit erneut isoliert, seine Wirtschaft stürzte ab.

Die Wirtschaft des Gazastreifens hat unter dem Teufelskreis aus Konflikten, Angriffen und Vergeltungsschlägen zwischen Israel und militanten palästinensischen Gruppen immer wieder gelitten. Zu den schwersten Kämpfen vor 2023 zählten die Ereignisse im Jahr 2014, als die Hamas und andere Gruppen Raketen auf Städte im Herzen Israels abfeuerten. Israel reagierte mit Luftangriffen und Artilleriebombardements, die ganze Stadtteile im Gazastreifen verwüsteten. Mehr als 2100 Palästinenserinnen und Palästinenser, überwiegend Zivilisten, wurden dabei getötet. Israel sprach von 73 Todesopfern auf seiner Seite: 67 Soldaten und sechs Zivilisten.

7. Oktober 2023 - Überraschungsangriff auf Israel

Am 7. Oktober starteten bewaffnete Hamas-Kämpfer und Verbündete einen überraschenden grenzüberschreitenden Angriff auf Israel aus der Luft, zu Land und zur See. Sie überwältigten die israelischen Grenztruppen. Sie wüteten in Städten, Kibbuzim und Militärstützpunkten. Sie töteten nach israelischen Angaben rund 1200 Menschen und verschleppten rund 250 Geiseln in den Gazastreifen.

Israel übte umgehend Vergeltung. Zunächst trafen den Gazastreifen die schwersten Luft- und Artillerieangriffen seiner Geschichte. Später startete das israelische Militär seine Bodenoffensive, nachdem es Hunderttausende Reservisten mobilgemacht und eine Blockade über Gaza verhängt hatte. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte die Vernichtung der Hamas zum Ziel.

Israel wies die palästinensische Zivilisten an, nach Süden zu fliehen, während seine Streitkräfte zunächst versuchten, die Hamas aus dem Norden zu vertreiben. Israelische Truppen lieferten sich Gefechte mit der Hamas und anderen militanten Gruppen. Die Hamas agierte aus den Ruinen und einem ausgedehnten Tunnelnetz heraus, das sie über Jahre gebaut hatte.

Israel warf der Hamas vor, ihre militärische Infrastruktur unter zivilen Gebäuden zu verstecken, um die Zivilbevölkerung als menschliche Schutzschilde zu benutzen. Palästinenser und ihre Unterstützer warfen Israel vor, unangemessene Gewalt gegen die Zivilisten anzuwenden.

Kurze Waffenruhe und Geisel-Freilassung im November

Im November kam es zu einer kurzen Waffenruhe, in deren Verlauf Hilfslieferungen in den Gazastreifen gelangten und die Hamas einige Geiseln freiliess. Doch nach wenigen Tagen brachen die Kämpfe erneut aus. Seither stockten die von Katar, Ägypten und den USA vermittelten Verhandlungen über eine weitere Waffenruhe, die Freilassung von Geiseln und mehr Hilfe für die Zivilbevölkerung.

Im Gazastreifen wurden nach Angaben der dortigen Gesundheitsbehörde seit Beginn der israelischen Angriffe mehr als 33.000 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet. Tausende weitere Tote werden in den Trümmern befürchtet. Israel gab an, dass bis Anfang April rund 250 seiner Soldaten im Gazastreifen getötet worden seien.

Hilfsorganisationen warnen vor humanitärer Katastrophe

Anfang 2024 erklärten Hilfsorganisationen, dass sich im Gazastreifen eine humanitäre Katastrophe abspiele und der Grossteil der 2,3 Millionen Einwohner des Landes vertrieben worden sei. Infolge der Bombenangriffe waren viele Familien gezwungen, in riesige Zeltlager im Süden des Gazastreifens zu ziehen. Dort gibt es kaum Nahrung, Wasser, medizinische Versorgung, Brennstoff oder sichere Unterkünfte.

Angesichts der grossen Zahl an Menschen, die sich in der Gegend um Rafah, der südlichsten Stadt des Gazastreifens, drängen, warnte die Weltgesundheitsorganisation (WHO), eine israelische Militäroffensive gegen die Stadt - wie sie Netanjahu angekündigt hat - würde eine «unvorstellbare Katastrophe» auslösen.

Tod von Helfern durch israelischen Angriff

Am Abend des 1. April starben bei einem israelischen Drohnenangriff sieben Mitarbeiter der US-Hilfsorganisation World Central Kitchen (WCK) im Gazastreifen. Bei den Opfern handelt es sich um britische, australische und polnische Staatsbürger, einen US-Kanadier mit doppelter Staatsangehörigkeit sowie einen palästinensischen Helfer. Der Vorfall löste weltweit Empörung aus. Das israelische Militär sprach von einem Fehler und übernahm die Verantwortung.

Der ohnehin schon erhebliche internationale Druck auf Israel wegen der mangelnden Versorgung der palästinensischen Zivilbevölkerung erhöhte sich durch den Luftangriff auf die WCK-Mitarbeiter. US-Präsident Joe Biden drohte Netanjahu mit einer Änderung der US-Politik gegenüber Israel, wenn der Schaden für die Zivilbevölkerung und die Hilfskräfte im Gazastreifen nicht verringert werde. Israel reagierte auf den massiven Druck seines engsten Verbündeten. Es kündigte an, nun deutlich mehr Hilfslieferungen in den Gazastreifen zu ermöglichen. Zudem wurden zwei Offiziere entlassen und mehrere Kommandeure gerügt.

(Reuters)