cash.ch: Frau Pisani, unter US-Präsident Trumps erratischer Politik sind die Zinsen in den USA gestiegen und der Dollar ist gefallen. Ist das ein strukturelles oder konjunkturelles Problem?
Florence Pisani: Es gibt einige zyklische Komponenten als Verstärkungsfaktor, aber davon abgesehen ist es strukturell. Denn erstens haben die USA ein hohes Haushaltsdefizit von etwa 6,5 Prozent des BIP. Und wenn man sich den sogenannten 'One Big Beautiful Bill Act' ansieht, dann wissen wir, dass er das Defizit bestenfalls nicht erhöhen, aber auch nicht verringern wird und die Staatsverschuldung steigt tendenziell an. Und es gibt kaum politischen Willen bei beiden Parteien daran, etwas zu ändern.
Ein Gegenmittel wären Steuern auf Vermögende - glauben Sie, es gibt eine Motivation, diese einzuführen?
Nicht wirklich, zumindest nicht von dieser Regierung. Auf der demokratischen Seite gibt es zwar etwas Bewegung, doch die Republikaner, die im Kongress über die Gesetze abstimmen, sind strikt gegen Steuererhöhungen für die Reichsten. Ein zentrales Problem beim Gesetzespaket ist, dass der Senat keine Kürzungen bei Medicaid will, das Gesundheitsfürsorgeprogramm für Menschen mit niedrigem Einkommen. Das ist nachvollziehbar, denn diese würden vor allem Menschen mit niedrigerem Einkommen treffen. Lässt man Medicaid aussen vor, bleiben allerdings weniger Spielräume für Steuersenkungen. Andernfalls würde das Defizit sogar noch stärker steigen als bei dem Gesetzesentwurf des Repräsentantenhauses.
Das Wirtschaftswachstum beeinflusst auch die Geldpolitik. Stellt das Jahr 2025 die Notenbanken vor eine besondere Herausforderung?
Ja es ist eine Herausforderung, weil es keine Sichtbarkeit und Klarheit gibt. Die Fed weiss nicht, was in Bezug auf die Zölle, den Haushalt oder die Steuerpolitik passieren wird. Dennoch war die Inflation rückläufig und liegt im Zielbereich. Auch das Wachstum in den USA ist bis auf Weiteres sehr robust und in Europa stabil. Die Fed ist also ziemlich gut aufgestellt und kann es sich leisten, geduldig zu sein.
Was ist die grösste Herausforderung für eine Notenbank?
Die Herausforderung besteht darin, zwischen zwei Elementen zu vermitteln: Wachstum und Inflation. Wir wissen, dass das Wachstumsrisiko auf der Abwärtsseite und das Inflationsrisiko auf der Aufwärtsseite liegt. Was also Ende dieses Jahres passieren wird, wird meiner Meinung nach für die Zentralbanken eine grössere Herausforderung darstellen, denn sie werden entscheiden müssen, ob Inflation oder Wachstum das höchste Risiko ist. Für die Fed ist es im Moment noch komplizierter als für die EZB. Denn während das Wachstumsrisiko für die EZB grösser ist als das Inflationsrisiko, ist es für die Fed etwa 50:50.
Wie können Zentralbanken mehr Klarheit erlangen?
Wenn der sogenannte 'One Big Beautiful Bill Act' wirklich verabschiedet werden soll, muss das noch vor Ende des Sommers passieren, am besten bis Mitte August. Der Grund ist, dass die Schuldenobergrenze angehoben werden muss und dies Teil dieses Gesetzespakets ist. Sobald das durch ist, haben sie mehr Klarheit über die künftigen Konjunkturmassnahmen. Bei den Zöllen hingegen bleibt vieles unklar. Es stehen noch 17 Handelsabkommen aus, und bei den übrigen 181 Ländern ist unklar, wie es weitergeht. Wenn wieder extrem hohe Zölle wie Anfang April verhängt würden, wäre das vor allem für kleinere Länder problematisch, die stark von den USA abhängig sind. Diese Unsicherheit wird wohl bestehen bleiben und macht es den Zentralbanken nicht gerade einfacher.
Es wurden vermehrt Stimmen laut, dass die Unabhängigkeit der Fed auf dem Spiel stehe. Wie hoch schätzen Sie Donald Trumps Einfluss auf die Notenbank?
Es passieren derzeit viele Dinge, die es so noch nie gegeben hat, aber im Moment sind wir ziemlich zuversichtlich, dass die Fed ihre Unabhängigkeit unter der Führung von Jerome Powell bewahren wird. Trump kann zwar Kritik äussern oder niedrigere Zinsen bevorzugen, aber am Kurs der Fed ändert das nichts. Das könnte sich nächstes Jahr jedoch ändern, wenn Powell ersetzt werden muss. Donald Trump dürfte dann seinen Nachfolger vorschlagen, was die Stabilität der Fed beeinflussen könnte. Doch die Entscheidung liegt nicht allein beim Präsidenten, sondern beim gesamten geldpolitischen Ausschuss, das heisst dem FOMC, der sich meiner Meinung nach wehren und versuchen wird, die Unabhängigkeit zu wahren.
Nächstes Jahr ist also entscheidend in Bezug auf die Unabhängigkeit der Fed?
Ja, denn neben Powell wird es wird im Januar 2026 noch ein weiteres Mitglied des FOMC ausscheiden. Es gibt also zwei Nachfolger innerhalb des Gremiums, und es könnte durchaus zu mehr Opposition und Konfrontation innerhalb der Fed kommen. Der Präsident könnte zwar mehr Einfluss auf die Geldpolitik nehmen, aber das wäre vor den Zwischenwahlen sehr riskant. Das Vertrauen in die Politik ist ohnehin fragil – sie jetzt unter Druck zu setzen, könnte die Märkte weiter destabilisieren.
Die Fed zeigt sich derzeit in einer abwartenden Haltung. Mit welchen Zinsschritten rechnen Sie noch?
Wir erwarten eine deutliche, aber kurze Verlangsamung der US-Wirtschaft - keine Rezession, aber ein Wachstum unter 1 Prozent. Hauptgrund sind die deutlich höheren Zölle, vor allem gegenüber China, welche die Kaufkraft der Haushalte belasten und die Inflation treiben. Die Fed steht dadurch vor einem Spagat: Einerseits steigt die Inflation vorübergehend, andererseits kühlt die Wirtschaft spürbar ab. Sobald die Fed im Laufe des Jahres mehr Klarheit über diese Entwicklung hat, könnte sie die Zinsen senken - um 25 bis 50 Basispunkte. Und falls die Verlangsamung stärker ausfällt, könnte sie das Tempo der Zinssenkungen auch beschleunigen. Der Handlungsspielraum ist da, aber sie wartet erst noch auf mehr Klarheit.
Auch in der Schweiz naht eine weitere Zinsentscheidung. Welchen Schritt erwarten Sie von der SNB am 19. Juni?
In dieser Hinsicht ist die Situation der SNB unserer Meinung nach eine der besten weltweit, denn die Inflation stellt in der Schweiz im Grunde genommen kein wirkliches Problem dar. Problematisch könnten hier eher die niedrige Inflation und die Deflation sein. Gleichzeitig hat sich der Schweizer Franken vor allem gegenüber dem Dollar stark aufgewertet. Wir denken daher, dass die Richtung für die SNB ziemlich klar ist. Sie muss die Zinsen aus diesen beiden Gründen weiter senken, um die Wirtschaft zu stützen und eine zu starke Aufwertung des Frankens zu vermeiden.
Also werden sie in den Negativzins-Bereich gehen?
Ja, es ist ziemlich klar, dass die SNB bei der nächsten Sitzung den Leitzins auf 0 Prozent senken wird. Das erwartet auch der Markt. Ob der Leitzins bei 0 Prozent bleibt, müssen wir abwarten. Je nachdem, wie sich die Zölle entwickeln, was in der Schweiz passiert und wie die Verhandlungen verlaufen.
Trump bleibt wirtschaftspolitisch unberechenbar. Welche Entscheidungen oder Entwicklungen während seiner verbleibenden Amtszeit könnten Ihrer Meinung nach grössere Risiken für die Weltwirtschaft darstellen?
Die Idee, ein 'Mar-A-Lago' zu agitieren (ein wirtschaftspolitisches Konzept von Trump, wonach die USA vor allem eine Strategie eines schwachen Dollars verfolgen soll, Anm. der Red.) wäre meiner Meinung nach auch wieder etwas destabilisierend. Vorerst spricht niemand darüber, aber die Idee kann wieder auf die Tagesordnung kommen. Auch die Verschärfung der Einwanderungspolitik ist meiner Meinung nach ein Risiko für die Stabilität innerhalb der USA. Und dann könnten viele Dinge in Bezug auf die Rechtsregeln und ähnliche Dinge passieren. Und wir wissen nicht, wie weit diese Regierung gehen wird und inwieweit die Gegenseite existiert oder nicht. Es ist ein Lernprozess. Es werden viele Dinge ausprobiert. Die gute Nachricht ist, dass wir manchmal Richter haben, die ihr Bestes tun, das Gesetz aufrechtzuerhalten.
Und am Finanzmarkt?
Ich denke, das grösste finanzielle Risiko liegt entweder beim Anleihemarkt oder im Inland. Bedenken Sie, dass die 10-jährigen US-Zinsen unter Druck geraten sind. Einige Versicherer sind gezwungen, ihre Positionen abzusichern, wenn es sich um ausländische Lebensversicherer handelt. Und das könnte eine gewisse Bewegung auslösen. Dies kann eine anhaltende langsame Abwertung des Dollars sein, was in Ordnung ist, aber eine Erklärung könnte die Bewegung beschleunigen, und das wäre meiner Meinung nach gefährlich für die USA, die Weltwirtschaft und das globale Finanzsystem.
Die Weltbank hat jüngst ihre Wachstumsprognose für 2025 gesenkt. Was ist ihre zentrale These für die Weltwirtschaft in der zweiten Jahreshälfte?
Betrachtet man die Prognosen für die Weltwirtschaft, macht die Prognose der Weltbank viel Sinn. Wir leben in einer globalisierten Welt, in der die Zölle für alle niedrig waren. Es gab gesetzliche Regelungen, die es einigen Schwellenländern erlaubten, höhere Zölle zu erheben, um ihren Markt zu schützen, weil sie unterentwickelt waren. Das war ein sehr faires System, ein System, das auf Regeln basierte. Und plötzlich rüttelt man an diesem System. Ich denke, das ist nicht nur für die grossen Volkswirtschaften, sondern auch für viele kleine zutiefst destabilisierend. Ich verstehe also, warum die Weltbank ihre Wachstumsprognose nach unten korrigiert hat.
Sehen Sie kleinere Volkswirtschaften als grösste Verlierer der derzeitigen Phase?
Ich denke, dass es für einige kleine Länder noch schlimmer kommen könnte. Sie sind von der Kürzung der Beihilfen betroffen. Und bedenken Sie, dass viele dieser Länder noch nicht wieder das Niveau vor Covid erreicht haben. Plötzlich müssen sie sich nicht nur davon erholen, sondern dies auch noch in diesem destabilisierenden Umfeld tun.
Florence Pisani ist Chefökonomin beim Vermögensverwalter Candriam, einer Tochtergesellschaft von New York Life. Sie kam 2002 als Ökonomin von der französischen Investmentbank CPR Gestion zu Candriam und wurde 2016 Global Head of Economic Research, bevor sie ihre derzeitige Position antrat. Sie ist Mitautorin mehrerer Bücher zu verschiedenen makroökonomischen Themen. Florence Pisani hat einen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften von der Universität Paris Dauphine, an der sie ausserdem unterrichtet.