Möglicherweise könnten Grundfeste der deutschen Demokratie in Gefahr geraten, heisst es in Regierungskreisen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier appellierte in seiner Weihnachtsansprache an die Deutschen, sich nicht aus der Demokratie zurückzuziehen. Innen-, aussen- und europapolitisch gibt es Entwicklungen, die nach Einschätzung sowohl von Politikern der Ampel-Regierung als auch der oppositionellen Union erhebliche Gefahren bergen.

1) GERÄT DIE AMPEL-REGIERUNG INS SCHLINGERN?

Kaum ein Tag vergeht, ohne dass führende Unions-Politiker wie CDU-Chef Friedrich Merz oder der CSU-Vorsitzende Markus Söder Neuwahlen fordern - und mit dem 9. Juni sogar konkrete Daten angeben. Auslöser sind die Querelen und Streitigkeiten zwischen SPD, Grünen und FDP in der Koalition etwa über das Heizungsgesetz und den Haushalt 2024 sowie die niedrigen Zustimmungswerte zur Ampel und Kanzler Olaf Scholz.

Die Ampel-Spitzen betonen zwar nach der Einigung über den Etat für das kommende Jahr, dass die Koalition bis 2025 halten wird. Keine der drei Parteien hat Interesse an Neuwahlen. Aber gerade bei SPD und Grünen sitzt der Frust über die Liberalen tief, denen vorgeworfen wird, die Etat-Einigung etwa in der Frage der Kürzung der Agrardiesel-Subventionen sofort wieder aufgekündigt zu haben.

In der FDP läuft zudem eine Mitgliederbefragung über einen Regierungsaustritt, den eine Gruppe in der Partei gefordert hat. Spitzenvertreter der Wirtschaftsverbände mahnen gegenüber Reuters, dass verunsicherte Unternehmen in der derzeit schwierigen wirtschaftlichen Lage nicht auch noch vorgezogene Wahlen brauchen. Dennoch wirkt die Ampel angeschlagen, was Zweifel an ihrer Handlungsfähigkeit weckt.

2) KÖNNEN AFD UND WAGENKNECHT-PARTEI BEI WAHLEN PUNKTEN?

Gleich zwei Parteien lösen derzeit bei den Parteien der politischen Mitte und auch der Wirtschaft vor dem Wahljahr 2024 grosse Sorgen aus. Die rechtspopulistische AfD erlebt seit Monaten angesichts der Unzufriedenheit über den Ampel-Kurs einen Aufschwung und erreicht etwa in der jüngsten Forsa-Umfrage einen Wert von 23 Prozent. Dazu kommt die Parteigründung von Sahra Wagenknecht, die Demoskopen und Strategen der anderen Parteien vor die Frage stellt, wie viele Anhänger die frühere Linken-Politikerin hinter sich scharen kann - und vor allem, welcher Partei dies schadet.

Auswirkungen könnten sich bei gleich mehreren Wahlen zeigen: Anfang Juni steht die Europawahl an, die zu einer Protestwahl werden könnte. Mit sorgenvollen Blicken wird aber vor allem auf die Landtagswahlen in den drei ostdeutschen Ländern Thüringen, Sachsen und Brandenburg im September geschaut. Zumindest in Thüringen und Sachsen könnte die AfD stärkste Kraft werden. In Thüringen könnte sogar eine Situation entstehen, in der es schwierig wird, überhaupt eine Regierung zu bilden. Bei Kommunalwahlen in fünf ostdeutschen Ländern im Juni könnte zudem eine ganze Welle von AfD-Politikern in Ämter gespült werden - was etwa lokale Entscheidungen über den Ausbau von Ökostrom beeinflussen kann.

3) BRINGT EUROPAWAHL EINEN RECHTSRUCK?

Die erwähnten Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) könnten die Statik in der EU empfindlich verändern. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban hofft offen auf einen Sieg der europakritischen, rechten Parteien in der EU. Angesichts der derzeitigen Stärke der Rechtspopulisten in Italien über Frankreich, Deutschland bis hin nach Skandinavien könnte es durchaus einen Rechtsruck geben.

Dies würde die Auswahl des neuen Spitzenpersonals von EU-Kommission, EU-Rat und Europa-Parlament beeinflussen. Bisher machten die konservativen Parteienfamilie, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne diese Postenbesetzung unter sich aus. Neue Mehrheiten im EP sowie Europakritiker auf den Spitzenposten der Europäischen Union könnten die von Kanzler Olaf Scholz geforderte EU-Reform und die angestrebte Erweiterung gefährden.

4) KIPPT DIE LAGE IN DER UKRAINE?

Zum Jahresende 2023 breitet sich im Westen zudem Pessimismus mit Blick auf den Krieg in der Ukraine aus. Dem ukrainischen Militär ist es mit seiner Gegenoffensive nicht gelungen, die russischen Invasionstruppen entscheidend aus den besetzten Gebieten zurückzudrängen, Russland ist im Osten sogar wieder in die Offensive gegangen.

Zudem scheinen die westlichen Sanktionen etwa gegen die russische Ölindustrie zu verpuffen. Dazu kommt, dass es Fragezeichen für die weitere militärische und finanzielle Hilfe für die Ukraine gibt. In den USA verweigern die oppositionellen Republikaner im Kongress seit Wochen die Freigabe eines grossen Waffenpakets. In vielen EU-Staaten bröckelt die Unterstützungsbereitschaft, obwohl ein möglicher russischer Sieg in der Ukraine überwiegend als verheerend angesehen wird.

Die Bundesregierung verdoppelt zwar ihre Militärhilfe, könnte aber auch innenpolitisch in eine schwierige Lage geraten, wenn die Last vor allem auf deutschen Schultern ruht. Zudem herrscht weiter die Sorge, dass der Krieg zwischen Israel und der radikal-islamischen Palästinenser-Gruppe Hamas im Gazastreifen sich zu einem Flächenbrand in Nahost ausweiten und die Aufmerksamkeit der USA von der Ukraine ablenken könnte.

5) WER FOLGT AUF US-PRÄSIDENT BIDEN?

Spitzenvertreter aus Regierung, Opposition und der Wirtschaft wie etwa BDI-Chef Siegfried Russwurm warnen, dass man sich auf eine Rückkehr des früheren US-Präsidenten Donald Trump ins Weisse Haus vorbereiten müsse. Denn die Chancen für Amtsinhaber Joe Biden auf eine Wiederwahl im November sind laut Umfragen deutlich gesunken.

Wegen der Abkehr von China ist aber Deutschlands sicherheitspolitische und technologische Abhängigkeit von den USA nochmals gestiegen. Europas grösste Volkswirtschaft und der EU drohen bei einem Wahlsieg Trumps wegen der dann erwarteten neuen US-Politik gegenüber Nato, Europa und Russland in schweres Fahrwasser zu geraten.

(Reuters)