cash.ch: Herr Hartmann, Sie warnten im Januar im Interview vor einem bösen Erwachen, was das wirtschaftliche Umfeld betrifft, und prognostizierten eine Korrektur am Aktienmarkt von 20 bis 25 Prozent. Warum lagen Sie mit Ihren Annahmen falsch?

Daniel Hartmann: Die Prognose hat sich auf das Jahresende bezogen, insofern bleibt noch ein bisschen Zeit. Aber es stimmt schon: Wir sind davon ausgegangen, dass der Abwärtstrend früher einsetzt. Die US-Wirtschaft hat uns mit ihrer Widerstandsfähigkeit im ersten Halbjahr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Nachholeffekte aus der Coronazeit und die Fiskalimpulse der Jahre 2020 und 2021 haben stärker gewirkt als gedacht. Und die Unternehmen waren in der Lage, zu Beginn des Jahres ihre höheren Kosten weiterzugeben, so dass sie auch noch ihre Gewinnmargen verteidigen konnten. So verzögert sich das ganze nach hinten.

Sie rechnen weiterhin mit konjunkturell schwierigen Zeiten?

Wir gehen nach wie vor davon aus, dass es zu einer globalen Rezession kommt. Unter anderem gibt die inverse Zinsstrukturkurve einen klaren Hinweis darauf, dass eine Rezession ansteht. Das Eintreten erfolgte in der Vergangenheit ein halbes bis eineinhalb Jahre nach der Invertierung. Die Rezession könnte daher erst Anfang 2024 eintreffen. Es ist das Schicksal des Prognostikers, dass er zwar Veränderungen der Rahmenbedingungen erkennt, aber nicht immer den genauen Zeitpunkt einer konjunkturellen Trendwende trifft.

Die Börsenstimmung widerspiegelt diese pessimistische Sichtweise aber nicht. Wie ordnen Sie die Lage an den Aktienmärkten Mitte Juli ein?

Die Mehrheit der Investoren an den Aktienmärkten rechnet mit einem 'Soft Landing' der Weltwirtschaft. In dieser Meinung wurden viele zuletzt durch die positiven US-Konjunkturdaten bestätigt. Als Folge sind die Schätzungen zu den Unternehmensgewinnen relativ hoch. Man rechnet nächstes Jahr in den USA mit Gewinnzuwächsen von 10 Prozent. Und die Investoren akzeptieren ein relativ hohes Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV). Am US-Aktienmarkt liegt dieses wieder bei 20. 

Und zuletzt kam noch die Euphorie rund um die Künstliche Intelligenz hinzu…

Ja, diese hat die Märkte zusätzlich beflügelt und die Ängste vor einer Rezession genommen. Diese positive Stimmung hat auch die europäischen Börsen nach oben gezogen, obwohl dort die Nachrichtenlage zuletzt schlecht war. 

Ist es denn nicht berechtigt, dass Investoren wegen der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz Wachstumshoffnungen haben?

Ich sehe eine Übertreibung. Man kann heute noch nicht abschätzen, wie stark sich die Künstliche Intelligenz auf die Produktivitätsentwicklung auswirken wird. Das digitale Zeitalter hat ja schon vor ChatGPT zu Veränderungen geführt. Im Bankensektor sehen wir beispielsweise seit Jahren ein Sterben der Filialen, weil sich alles auf das Online-Banking verlagert. Die Produktivitätseffekte, die man sich dort erhofft hat, sind aber bisher ausgeblieben. Das Wachstum der Arbeitsproduktivität ist seit Jahren in den Industrieländern rückläufig. Ich will keine strukturelle Veränderung ausschliessen, aber kurzfristig kürzen die Unternehmen derzeit ihre Investitionsbudgets. Es wäre das erste Mal, dass ein Investitionsboom wegen einer technologischen Entwicklung plötzlich vom Himmel fällt. Es ist unwahrscheinlich, dass die Unternehmen die anderen Rahmenbedingungen einfach ignorieren.

Warum sind die Rahmenbedingungen klar negativ?

Die US-Unternehmen (Investment Grade) konnten sich bis vor zwei Jahren durchschnittlich für einen Zins von 2 Prozent bei mittlerer Laufzeit verschulden, jetzt müssen sie bis zu 6 Prozent zahlen. Eine Investition muss einen entsprechenden Ertrag abwerfen, um sie weiterhin zu rechtfertigen. Gleichzeitig halten sich die Banken bei der Kreditvergabe zunehmend zurück. Die zyklischen Kräfte, die abwärtsgerichtet sind, sind stärker als die kurzfristigen Benefits durch die KI.

Die KI bietet Fantasie für die Märkte?

Ja. Sie passt in den Glauben, dass die USA von einer Rezession verschont werden. Ich gehe hingegen davon aus, dass die negativen Effekte durch den Zinsschock erst noch spürbar werden. Darunter fallen Refinanzierungskosten von Investitionsprojekten. Dies gilt aber auch zeitverzögert für Hypothekarnehmer. Insgesamt hat man sich in den vergangenen Jahren an dieses Niedrigzinsumfeld gewöhnt, so dass viele Geschäftsmodelle darauf basieren.

Die Inflationsrate in den USA ist wegen sinkender Energiepreise mit zwei Prozent auf den niedrigsten Stand seit mehr als zwei Jahren gefallen. Was bedeutet dies für die Geldpolitik der US-Notenbank Fed?

Eine weitere Erhöhung um 25 Basispunkte für Juli hat die Fed sozusagen bereits angekündigt. Darüber hinaus wird die Luft aber für weitere Leitzinsanhebungen dünner. Vom Inflationsziel von 2 Prozent ist man nicht mehr weit entfernt. Entscheidend bleibt darüber hinaus das konjunkturelle Umfeld. Wenn die Arbeitslosigkeit mit der Rezession ansteigt, dann wird sich die Priorität der US-Notenbank verschieben. In der Vergangenheit hat die Fed immer mit Leitzinssenkungen reagiert, wenn die Arbeitslosigkeit angestiegen ist. Ich rechne nächstes Jahr mit deutlichen Leitzinssenkungen in Höhe von mindestens 200 Basispunkte, angesichts eines Umfeldes, in dem die Arbeitslosigkeit ansteigt und die Teuerung rückläufig ist.

Warum gelingt den Notenbanken trotz baldiger Zinssenkungen kein 'Soft Landing'?

Die Kostenbelastung ist insgesamt zu hoch für die Unternehmen. Die Lohnstückkosten in den USA legen nach wie vor um rund 5 Prozent zu (im Vorjahresvergleich). Sobald sich die Nachfrage aufgrund rückläufiger Investitionen abgeschwächt hat, dürfte eine Abwärtsspirale einsetzen. Insbesondere, da auch von der Fiskalpolitik der Rückenwind nachlässt. 

Wie stark wird der Einbruch?

Ich rechne mit einer ausgewachsenen Rezession, die mindestens drei Quartale anhalten wird. Die Abschwächung überträgt sich von den Investitionen via den Arbeitsmarkt auf die Konsumenten. Und dann weiss man nicht, ob schlussendlich noch ein Finanzmarktschock hinzukommt, der das ganze verstärkt. In einer solchen Phase nehmen die Kreditausfälle zu und das setzt die Banken stärker unter Druck.

Anlegerinnen und Anleger sollten sich auf grössere Turbulenzen vorbereiten?

Ja. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass derzeit der grösste Zinsschock seit den 80er Jahren stattfindet. In der Vergangenheit war es selten so, dass die Notenbanken ein 'Soft Landing' hingebracht haben. In den meisten Fällen hat die Geldpolitik überzogen und eine Rezession ausgelöst. Das Problem besteht darin, dass die Notenbanken ihre Glaubwürdigkeit nach dem deutlichen Inflationsanstieg zurückgewinnen wollen. Dabei orientieren sie sich stark an nachlaufenden Indikatoren wie den Inflationsraten, um ihren nächsten Schritte zu legitimieren. Dadurch laufen sie jedoch Gefahr, in der Zinspolitik über das Ziel hinauszuschiessen.

Aber jetzt ist die Inflation stark zurückgekommen…

Niemand konnte damit rechnen, dass die Inflationsrate innerhalb von kürzester Zeit von zweistelligen Raten auf das Inflationsziel von 2 Prozent zurückfällt. Denn die Basiseffekte brauchen in der Regel zwölf Monate, bis starke Teuerungsanstiege wieder herausfallen. Deshalb sind die Aussagen der Notenbanken, dass sich die Inflation zu lange auf hartnäckig hohem Niveau bewege, schwer verständlich. Es kommt ja auf den Trend an. Und diesbezüglich spricht für die nächsten Monate einiges dafür, dass die Inflation weiter nachlässt.

Warum bleibt die Inflation trotzdem langfristig ein Thema?

Man muss zwischen zyklischen und strukturellen Trends unterscheiden. Eine Rezession drückt auf die Inflation. Aber die strukturellen Faktoren sprechen dafür, dass wir vor einem Jahrzehnt mit höheren Teuerungsraten als in den vergangenen 20 Jahren stehen.

Welche Faktoren sprechen Sie an?

Man nennt diese häufig die drei 'D's. Der wichtigste ist der demographische Wandel mit dem daraus resultierenden Arbeitskräftemangel. In allen wichtigen Industrieländern gehen die Babyboomers in Rente. Als Konsequenz wird sich das Lohnwachstum auf höherem Niveau einpendeln. Weiter wirkt die Dekarbonisierung preistreibend. Viele Länder wollen mittels CO2-Steuern klimaneutral werden, was die Verbrennung fossiler Brennstoffe verteuert. Gleichzeitig investiert man zu wenig in diesen Bereich, was eine Angebotsverknappung zur Folge hat. Der Öl-, Gas-, und Kohlepreise dürften daher mittelfristig auf einem relativ hohen Niveau bleiben. Zudem bewirkt die Energiewende einen grösseren Bedarf nach bestimmten Rohstoffen. Bei Elektroautos und Stromnetze braucht man Kupfer oder für Batterien Lithium. Auch findet die Deglobalisierung statt. Dass man eher den sichersten anstatt den kostengünstigsten Lieferanten sucht, verteuert die Produktion. Oder bei der Chipindustrie rücken nationale Interessen in den Vordergrund, was ineffiziente Strukturen fördert.

Die Leitzinsen bleiben langfristig als Konsequenz erhöht?

Ja. Den Notenbanken wird nichts anderes übrig bleiben, als die strukturelle Inflation zu bekämpfen. Dieses neue Inflationsumfeld führt zu einer Zeitenwende an den Finanzmärkten, da im nächsten Aufschwung wahrscheinlich die Leitzinsen noch höher gehen.

Wie sieht die konjunkturelle Entwicklung in Europa aus?

In der Eurozone sind wir bereits in einer Rezession, vor allem in Deutschland. Alle Indikatoren haben sich zuletzt verschlechtert. Die Industrie ist stark angeschlagen. Dazu passt auch, dass die Autokonzerne über Absatzprobleme klagen oder die Chemiebranche stark unter Druck steht. Die Hoffnung vieler, dass die Konjunktur in der Eurozone wieder anzieht, wird sich nicht erfüllen. Es besteht vielmehr die Gefahr, dass die Rezession noch tiefer wird.

In letzter Zeit häufen sich bereits die Gewinnwarnungen von Unternehmen…

Das sind böse Vorboten und passen in unser Konjunkturbild hinein. Die weltweit restriktivere Geldpolitik bremst die Nachfrage, worunter die Chemieindustrie besonders leidet. Diese gilt ja auch als konjunktureller Vorbote dafür, wie die Lage tatsächlich ist.

Was bedeutet ihr konjunkturelles und geldpolitisches Szenario für den Aktienmarkt?

Allein aus dem absehbaren Gewinnrückgang lässt sich ein Rückschlagspotenzial von 20 Prozent an den Börsen in den USA und Europa ableiten. Wenn in einer solchen Phase der Risikoappetit abnimmt, liegt das Korrekturpotenzial von den gegenwärtigen Niveaus aus gesehen bei mindestens 20 bis 30 Prozent. Die Geschichte zeigt, dass bei Rezessionen der Aktienmarkt im Durchschnitt um 35 bis 50 Prozent absackt, was den Rückschlag vom Hochpunkt bis zum Tiefpunkt anbetrifft. Deshalb ist ein Minus von 20 bis 30 Prozent kein übertrieben schlechtes Szenario.

Gibt es sonst noch Marktrisiken, die noch zusätzlich für Abwärtspotenzial sorgen könnten?

Ein Finanzmarktschock ist das grösste Marktrisiko. Gerade in letzter Zeit hatten wir zwei Ereignisse, die für Verwerfungen sorgten. So gerieten die Pensionskassen in Grossbritannien letztes Jahr wegen der Entwicklung bei den Staatsanleihen unter Druck. Und dieses Jahr gab es Turbulenzen um die Regionalbanken in den USA. Wir wissen nicht, in welchen anderen Bereichen noch Schieflagen durch steigende Zinsen entstehen können. Der Ukraine-Krieg ist hingegen in den Hintergrund getreten, wobei ein Atomschlag sicherlich grosse Auswirkungen hätte. 

Dass die japanische Notenbank die Leitzinsen erhöht, wird oftmals auch als Marktrisiko genannt…

Wir halten dies aber in einer rezessiven Phase für die Weltwirtschaft für unwahrscheinlich.

Stellen die zunehmenden Spannungen zwischen China und den USA keine Gefahr dar?

Langfristig ist diese geopolitische Entwicklung ein Problem. Dass Asien, Europa und die USA auseinanderdriften und jeder versucht sein eigenes Ding zu machen, ist insgesamt negativ für die Weltwirtschaft. Es wird zu Fehlallokation und Doppelstrukturen - etwa bei der Produktion von Chips - kommen, was sich dämpfend auf den globalen Wachstumstrend auswirkt.

Auf was sollten Anleger setzen? Substanzaktien (Value), Zykliker oder Wachstumswerte?

Ich empfehle Anlegerinnen und Anlegern derzeit nicht, sich bei Zyklikern oder Wachstumswerten zu exponieren. Es ist eine defensive Ausrichtung gefragt. Dazu gehören Titel des Basiskonsumgütersektors, der am wenigsten unter Rezessionen leidet. Auch Versorger- oder Infrastrukturaktien, die von der Energiewende profitieren, sind relativ attraktiv - beispielsweise EDP, Iberdrola oder Enel. Gesundheitsaktien sehen wir trotz defensivem Geschäftsmodell eher skeptisch, da diese von Corona stark profitiert haben. Immobilienaktien sind auf lange Sicht eher problematisch. Gleiches gilt für die hoch bewerteten Technologie-Titel. 

Also auf Substanz setzen?

Ja, Qualität wird wichtiger denn je. Wachstumswerte haben 15 Jahre lang von tiefen Zinsen profitiert. Dieses Marktumfeld gehört der Vergangenheit an.

Bei Wachstumswerten und Zyklikern sollte man jetzt eher Gewinne mitnehmen?

Ja, im gegenwärtig noch positiven Marktumfeld bietet sich dies an.

Was bedeutet der konjunkturelle und geldpolitische Ausblick für die Währungspaare Dollar/Franken und Euro/Franken?

Für die 'Safe Havens' Franken und Dollar ist die absehbare globale Rezession etwas Positives. Kurzfristig leidet der Dollar unter dem Ausblick, dass die Fed als erstes die Leitzinsen senken wird und der Zinsvorteil zurückgeht. Die jüngste Frankenstärke überrascht auf den ersten Blick, hat sich der Zinsnachteil der Schweiz doch zuletzt wieder vergrössert . Hier scheinen allein die positiven Zinsen dafür zu sorgen, dass die Attraktivität des Frankens hoch bleibt. Zudem sticht die Schweiz in vielen Bereichen wie der Staatsverschuldung als Fels in der Brandung hervor. Der Franken dürfte seinen strukturellen Aufwärtstrend fortsetzen.

Staatsverschuldung. Warum ist dies derzeit trotz höherer Zinsen kein Thema?

Ich sehe dort sicherlich Risiken. Es erscheint zunächst merkwürdig, dass die Staatsschuldenquoten in den vergangenen zwei Jahren trotz steigender Zinsen teilweise zurückgegangen sind. Dies liegt am recht hohen Nominalwachstum infolge der Inflation, was die Steuereinnahmen in die Höhe trieb. Wenn die Inflation jetzt aber zurückgeht und die Zinsen relativ hoch bleiben, dann wird die Konstellation ungünstiger. Es zeichnet sich bereits ab, dass die Staaten langsam wieder auf die Ausgabenbremse drücken wollen. Angesichts der vielfältigen Herausforderungen - Klimawandel, geopolitische Konflikte oder Digitalisierung - ist die Verlockung für die Politik allerdings gross, die expansive Fiskalpolitik fortzusetzen. Das Thema 'Staatsverschuldung' das zuletzt in einen Dornröschenschlaf gesunken ist, wird in den nächsten Jahren sicherlich wieder für Gesprächsstoff sorgen.

Dr. Daniel Hartmann ist seit 2017 Chefökonom beim Asset Manager Bantleon in Zürich und in dieser Funktion für die Finanzmarktprognosen bei Anliehen und Aktien sowie die Analyse der globalen Konjunktur und Geldpolitik verantwortlich. Zuvor war er viele Jahre Senior Analyst Economic Research bei Bantleon.

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