cash.ch: Die KI-Blase ist in aller Munde. Doch gewichtige Finanzakteure wie JP Morgan oder Goldman Sachs sind sich nicht mehr sicher, ob es überhaupt eine KI-Blase gibt. Wie sehen Sie das?
Sergio Rossi: Ich bin überzeugt, dass es im Bereich der künstlichen Intelligenz eine Blase gibt. Eine Blase entsteht, wenn Aktienkurse kontinuierlich steigen, ohne dass dies durch die fundamentalen Werte der Unternehmen gerechtfertigt ist, also durch deren tatsächliche Rentabilität, Investitionen oder Kapitalrendite. Grosse Player wie Nvidia werden ihre Versprechen an die Investoren wahrscheinlich einlösen können. Doch daneben gibt es noch unzählige, die ihre Versprechen nicht einlösen können.
Was macht die Situation gefährlich?
Das Problem ist die Kreditfinanzierung. Früher kaufte man Aktien mit Ersparnissen. Wenn man diese verlor, war das ärgerlich, aber es blieb ein privates Problem. Seit Anfang der 2000er Jahre finanzieren jedoch viele Investoren ihre Käufe mit Krediten. Wenn diese Schuldner ihre Kredite nicht zurückzahlen können, geraten auch die Banken in Schwierigkeiten. Aus individuellen Verlusten wird eine systemische Krise.
Wie entsteht eine Blase? Können Sie die einzelnen Schritte beschreiben?
Eine Blase beginnt immer mit «Irrational Exuberance», also wenn Anleger übermässig und unbegründet an den Finanzmärkten in Begeisterung verfallen. Quasi wenn sie sich vorstellen, dass darin das nächste Paradies wartet, in diesem Falle alles was mit KI zu tun hat.
Die Erwartungen übertreffen dann die Fundamentalwerte der Firma?
Ja, weil man an riesige Gewinne und enorme Renditen glaubt. Die Banken befeuern diese Euphorie, indem sie grosszügig Kredite vergeben. Gleichzeitig senkt die Zentralbank die Zinsen, was die Sache noch attraktiver macht. Als Beispiel: Der berühmte US-Ökonom Hyman Minsky hat dafür einen treffenden Satz geprägt: «Finanzielle Stabilität ist destabilisierend.» Was er meint: Wenn alles gut läuft, werden alle sorgloser. Die Kreditvergabe steigt immer weiter, die Preise von Wertpapieren klettern immer höher. Irgendwann aber ist das Verhältnis zwischen Schulden und tatsächlichen Gewinnen völlig aus dem Lot geraten.
Und dann kommt der Wendepunkt?
Genau. Entweder die Zentralbank erhöht die Zinsen, oder ein Marktführer wie BlackRock oder Goldman Sachs beginnt viele Wertpapiere zu verkaufen. Wenn eine solche Institution ihre Aktien, zum Beispiel von Nvidia, abstösst, denken kleinere Investoren: «Die haben Informationen, die wir nicht haben.» Also verkaufen auch sie. Das ist das klassische Herdenverhalten.
Dann kommt es zu den Panikverkäufen?
Es ist wie beim Skirennen: Marco Odermatt ist vielleicht als Erster im Ziel, aber nicht alle können gewinnen. Wer früh verkauft, macht vielleicht noch Gewinn. Aber die Nachzügler verlieren. Wenn viele gleichzeitig verkaufen wollen, fallen die Preise von Wertpapieren rapide und die Blase platzt.
Das war bei früheren Blasen auch so, etwa bei der Dotcom-Krise?
Ja. Die Dotcom-Blase platzte zu Beginn der 2000er Jahre, weil die Federal Reserve die Zinsen erhöhte, früher und stärker als erwartet. Viele Kredite wurden dadurch zu teuer. Die Schuldner konnten nicht mehr zahlen, aber auch ihre Gläubiger gerieten in Schwierigkeiten.
Kann man als Anleger eine Blase rechtzeitig erkennen?
In der Anfangsphase, also wenn alle euphorisch sind, ist das fast unmöglich. Erst später, wenn die Blase schon gross ist, kann man Warnsignale erkennen: Die Aktienkurse steigen und steigen, aber die Fundamentaldaten, etwa Bilanzen, Gewinnraten, Verschuldungsgrad, rechtfertigen diese Bewertungen nicht mehr. Das Problem ist, dass nicht jeder diese Informationen beschaffen und richtig interpretieren kann.
Die Blase platzt, führt die zwingend zu einem Börsencrash?
Nein, nicht unbedingt. Manche Blasen platzen nicht, sondern entleeren sich allmählich ohne grosse Schäden. Entscheidend ist der Umfang: Handelt es sich um eine lokal begrenzte Blase in einem bestimmten Sektor, oder betrifft sie die ganze Weltwirtschaft? Die KI-Blase ist aber schon global. Sie erfasst Banken, Pensionsfonds und Unternehmen weltweit. Das macht sie gefährlich.
Was passiert im schlimmsten Fall?
Im Worst-Case-Szenario führt es zu einer globalen Finanzkrise: Schuldner können nicht zurückzahlen, Banken geraten in Schieflage, Pensionsfonds und Versicherungen erleiden massive Verluste. Im Best-Case-Szenario gibt es Verluste für einzelne Anleger, aber die Finanzstabilität bleibt gewahrt. Die meisten Unternehmen überleben, die Aktienkurse sinken auf ein realistisches Niveau. Das Positive, wenn man so will: Nach dem Platzen einer Blase entsprechen die Aktienkurse wieder den tatsächlichen Unternehmenswerten. Die Übertreibung wird korrigiert.
In der Schweiz sind wir entweder direkt, aber auch indirekt über die Pensionskasse in diese Märkte investiert.
Das ist tatsächlich ein heikler Punkt. Selbst wer nie direkt eine Nvidia-Aktie gekauft hat, könnte trotzdem betroffen sein, nämlich dann, wenn die eigene Pensionskasse in KI-Werte investiert hat. Platzt die Blase, sinkt die Rente aus der zweiten Säule. Das kann dann Folgen weit über den Finanzmarkt hinaus haben: Rentner mit weniger Einkommen konsumieren weniger, Restaurants, Kinos, der Einzelhandel leiden mit.
Was raten Sie Privatanlegern?
Wer nicht über fundierte Informationen und Marktkenntnisse verfügt, sollte sich von Finanzmarktinvestitionen fernhalten. Bankkonten in der Schweiz sind bis 100'000 Franken garantiert, das ist für die Mittelschicht die sicherere Wahl als volatile Aktieninvestments. Der Nachteil von Finanzanlagen wird gerne übersehen: Man muss ständig die Kurse beobachten, kann nachts nicht mehr ruhig schlafen.
Wird die KI-Blase platzen? Was ist Ihre persönliche Einschätzung?
Ich sehe zwei mögliche Szenarien. Entweder die Blase platzt. Vor allem für kleine, hoch verschuldete Start-ups, weniger für die Giganten wie Nvidia. Wenn viele dieser Firmen gleichzeitig scheitern, wird das Schuldenvolumen für die Banken zum Problem. Oder die Blase entleert sich allmählich, ohne zu platzen. Welches Szenario eintritt, hängt auch stark von wirtschaftspolitischen Entscheidungen ab.
Welche Entscheidungen meinen Sie?
Jerome Powell verlässt die Federal Reserve im Mai 2026. Sein Nachfolger, vermutlich ein Trump-Vertrauter, könnte die Zinsen senken. Das würde die Blase eher entleeren, statt sie platzen zu lassen. Aber auch geopolitische Spannungen, etwa zwischen China und den USA wegen Taiwan und Mikrochips, könnten zum Auslöser werden.
Warum lernen wir nicht aus der Geschichte?
Das hat mehrere Gründe. Erstens: Schauen Sie sich die Lehrpläne an Universitäten an. Wirtschaftsgeschichte ist kaum noch Pflichtfach. Die Ökonomen setzen auf ökonometrische Modelle und glauben, damit die Zukunft vorhersagen zu können. Aber wie John Maynard Keynes sagte: Die Zukunft ist unwissbar und unvorhersehbar. Es gibt zu viele Variablen, die Wirtschaftssysteme sind zu komplex miteinander verflochten.
Zweitens: Die grossen Banken haben keinen Anreiz zu lernen. Wenn sie gewinnen, stecken sie die Profite ein. Wenn sie verlieren, springt der Staat ein. Schauen Sie sich die UBS an: 2008 stand sie vor dem Bankrott und wurde gerettet. 2023 übernahm sie die Credit Suisse. Wieder mit staatlicher Hilfe. Die Gewinne werden privatisiert, die Verluste sozialisiert.
Das heisst, es wird auch eine Blase nach KI geben, welche?
Ja, ziemlich sicher. Die Häufigkeit von Blasen hat zugenommen. Wir hatten die Dotcom-Blase Ende der 1990er Jahre, dann 2006 die Immobilienblase, die 2008 zur globalen Finanzkrise führte. Jetzt die KI-Blase. Und ich rechne damit, dass die nächste eine «grüne Blase» sein könnte.
Eine grüne Blase?
Wenn der Staat massiv grüne Aktivitäten fördert, werden Finanzinstitute dort hohe Renditen wittern. Es entsteht wieder dieser «Irrational Exuberance»: «Grüne Technologie ist das nächste Paradies!» Kredite fliessen, die Aktienkurse steigen. In zehn, zwölf Jahren könnte diese Blase dann so gross sein, dass sie platzt, mit denselben negativen Folgen wie bei früheren Krisen.
Und was wäre nötig, damit Sie sagen: Ich habe mich geirrt, es gibt keine KI-Blase?
Wenn der neue Fed-Chef die Zinsen niedrig hält oder sogar senkt, könnte die Blase sich entleeren, ohne zu platzen.
Der 58-jährige Tessiner Sergio Rossi ist seit 2008 ordentlicher Professor für Makroökonomie und monetäre Ökonomie an der Universität Fribourg. Er beschäftigt sich intensiv mit Geldpolitik, Finanzkrisen, Kapitalmärkten und der Realwirtschaft. Zudem hat er mehrere Bücher zur Geldtheorie verfasst. 1996 erlangte er seinen ersten Doktortitel an der Universität Fribourg, vier Jahre später seinen zweiten am University College London.

