Der Aktienmarkt könnte einen schlimmeren Ausverkauf als 2011 erleben, wenn die Mehrheitsführer des US-Kongresses und Präsident Joe Biden die Krise um die Schuldenobergrenze nicht lösen, warnen die Strategen von JPMorgan in einer Notiz vom Montag. Es sei möglich, dass Aktien im Jahr 2023 aufgrund der gegensätzlichen zyklischen Trends der beiden Zeiträume schlechter abschneiden könnten als 2011. Heute befindet sich die Geldpolitik in einer Straffungsphase, während sie 2011 gelockert wurde, und die Geldmenge kollabiert jetzt und wächst nicht wie damals. Ausserdem waren die Bewertungen 2011 im Vergleich zu heute viel attraktiver.

Bisher waren die Bewegungen an den Aktienmärkten angesichts der Verhandlungen in Washington relativ gedämpft, und der CBOE-Volatilitätsindex VIX - der als Angstmesser des Aktienmarktes gilt - verharrt in der Nähe der Tiefststände der letzten Wochen. Gewisse Aktienmärkte - wie der Dax - haben gar ein Allzeithoch erreicht. “Mit Ausnahme der CDS auf kurzlaufenden US-Staatsanleihen, sehen wir an den Finanzmärkten keinerlei Anzeichen von Nervosität”, sagt Matthias Geissbühler, Anlagechef von Raiffeisen auf Anfrage von cash.ch.

Der Beinahe-Zusammenbruch vor zwölf Jahren sollte jedoch als abschreckendes Beispiel dienen, so JPMorgan. Damals brach der S&P 500 innerhalb von zwei Wochen um 17 Prozent ein. Denn 2011 veranlasste der Streit um die Schuldenobergrenze das Ratingunternehmen S&P Global dazu, das Triple-A-Rating der USA zu senken und die Schulden der grössten Volkswirtschaft der Welt im August 2011 auf AA+ herabzustufen.

"Wenn es dieses Mal tatsächlich zu einem Default kommt, selbst wenn er nur kurzfristig andauert, würde dies in vielen Bereichen für erhebliche Verunsicherung sorgen", argumentiert auch Bantleon-Chefökonom Daniel Hartmann. Pensionskassen und andere institutionelle Investoren müssten unter Umständen US-Staatsanleihen verkaufen, der gesamte Derivatemarkt könnte zum Erliegen kommen, Staatsbedienstete und Rentner würden um ihr Einkommen fürchten und ihren Konsum einschränken und das Ansehen der USA als sicherer Hafen würde nachhaltigen Schaden davontragen.

Einigung bleibt das Basisszenario

US-Finanzministerin Janet Yellen bekräftigte am Montag in einem Brief an McCarthy und andere führende Vertreter des Kongresses, dass ein Zahlungsausfall der weltgrössten Volkswirtschaft ab 1. Juni droht. Die USA wären dann nicht mehr in der Lage, einen Grossteil ihrer Rechnungen zu begleichen.

“Wir gehen davon aus, dass sich der Kongress am Ende des Tages auf eine erneute Anhebung der Schuldenobergrenze einigen wird”, sagt Raiffeisen-CIO Geissbühler. Allerdings werde die Zeit extrem knapp und deshalb sei es nicht ausgeschlossen, dass sich das Szenario von 2011 wiederhole – sprich die Anhebung erst nach Ablauf der “Deadline” erfolge.  

Anastassios Frangulidis, Chefstratege Pictet Asset Management und Leiter Multi Asset Schweiz, rechnet gegenüber cash.ch mit einer Einigung: “Auch wenn die Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns angestiegen ist, bleibt sie tief. Wir haben in der Vergangenheit viel zu oft gesehen, dass eine Einigung in der Frage der Schuldenobergrenze nach harten politischen Auseinandersetzungen immer gefunden werden konnte.” Die Logik dahinter: Keine Partei wollte und will die Kosten eines Scheiterns tragen.

Und selbst die schwarzmalenden JPMorgan-Strategen bekräftigten, dass ihr Basisszenario nach wie vor darin besteht, dass die Politiker letztendlich eine Einigung erzielen, die einen Staatsbankrott verhindert, aber selbst dieses Szenario führt zu einer deutlich höheren Marktinstabilität, als dies der Markt derzeit einschätzt", sagten sie. 

Republikaner nutzen die Gunst der Stunde

"Eine Kombination aus einem schwierigen politischen Hintergrund, einem früher als erwarteten X-Termin Anfang Juni, einem Mangel an Alternativen, falls der Kongress nicht handelt, und einer zuversichtlichen Aktienpositionierung deutet auf ein erhöhtes Risiko einer signifikanten Neubewertung von Aktien hin, falls der X-Termin ohne eine Lösung für die Schuldenobergrenze überschritten wird", schrieben die JPMorgan-Strategen weiter.

“Die Republikaner als Opposition haben jedoch ein Interesse, möglichst viel politisches Kapital aus der Situation zu schlagen, was gegen eine "frühe" Einigung spricht”, sagt Thomas Rühl, Anlagechef der Schwyzer Kantonalbank, der mit einer Einigung “in letzter Minute” rechnet.  Ihre Mehrheit ist aber dünn und die Fraktion ist innerlich zerstritten. Einzelne Abgeordnete können also mit genügend Anreizen zu "Abweichlern" werden. Dies mache das Szenario des Staatsbankrotts unwahrscheinlich.

"Die Republikaner werden sich ihre Zustimmung am Ende aber teuer bezahlen lassen. Die Demokraten werden nicht umhinkommen, deutlichen Kürzungen bei den Staatsausgaben zuzustimmen", warnt auch Hartmann. Nicht auszuschliessen sei zudem, dass die endgültige Einigung erst zwei, drei Tage nach dem X-Day erfolge. Dann wird das Treasury Department aber zunächst "unwichtige" Ausgaben kürzen - zum Beispiel für Lieferanten oder Staatsbedienstete. Die Zinszahlungen wird man auf jeden Fall leisten.

Bietet der Schweizer Aktienmarkt im Worst-Case Schutz?

Geissbühler rechnet damit, dass ein Scheitern der Gespräche und ein Ausbleiben eines Kompromisses erneut zu (temporären) Verwerfungen an den Finanzmärkten führen würde. “Der Schweizer Aktienmarkt könnte sich einem “Sell-off” nicht entziehen. Aufgrund der defensiven Branchenzusammensetzung sollte der SPI aber relativ betrachtet weniger stark unter Druck kommen. Hinzu kommt, dass sich in einem solchen Szenario der Schweizer Franken tendenziell aufwerten dürfte – was grundsätzlich für CHF-Anlagen spricht,” so der Raiffeisen-Anlagechef.

Für Frangulidis ist das Scheitern der Verhandlungen nicht das Hauptszenario, sieht aber deutliches Korrekturpotenzial an den globalen Finanzmärkten, sollte er nicht recht bekommen. Wie Geissbühler sieht er den Schweizer Markt wegen der Qualität auch in diesem Worst-Case-Szenario im internationalen Vergleich besser abschneiden.

Rühl sieht trotz des defensiven Charakters aber auch am Schweizer Aktienmarkt Schwachstellen: “Einzelne Sektoren und Titel sind jedoch verwundbar, so etwa der Bankensektor, der auf sichere US-Staatsanleihen angewiesen ist. Bei Einzeltiteln denken wir etwa an Zurich”. Die Versicherung hat ein grosses US-Geschäft und ist ebenfalls in US-Staatsanleihen investiert. Ein schwächerer US-Dollar und eine schwächere US-Konjunktur würde die Firma überproportional betreffen.

"Wir rechnen ohnehin schon mit einer Rezession in den USA. Die Turbulenzen um einen US-Zahlungsausfall würden den konjunkturellen Abwärtstrend beschleunigen und verschärfen," sagt Hartmann von Bantleon. Dies würde die gesamte Weltwirtschaft mit in den Abgrund ziehen und damit auch den Schweizer Aktienmarkt belasten. Kurzfristige Abschläge von bis zu 50 Prozent wären hier sicherlich nicht auszuschliessen. Vor allem zyklische Aktien würden unter Druck stehen. 

Defensive so oder so favorisiert

Abgesehen von einer "heftigen Abwärtsbewegung bei Aktien", die eintreten könnte, wenn ein Zahlungsausfall näher rückt, warnten die Analysten JPMorgan auch vor möglichen Ausgabenkürzungen bei einigen von Bidens gesetzgeberischen Prioritäten, wie dem Inflation Reduction Act oder dem Chips and Science Act. Bloomberg Intelligence schätzt daher, dass auch ein Zahlungsausfall 570’000 Jobs kosten könnte.

"Wir empfehlen Anlegern, die sich gegen dieses potenzielle Risiko absichern wollen, den Kauf von VIX-Call-Spreads und einen Abwärtsschutz bei Small Caps", so die Strategen der US-Grossbank. "Im Hinblick auf die Staatsausgaben empfehlen wir, das Engagement in Unternehmen zu reduzieren, die von grünen/klimatischen/elektrischen Politik-Massnahmen profitieren, und Unternehmen, die von der Energiereform profitieren könnten, hervorzuheben.

Geissbühler empfiehlt anlagetaktisch eine defensive Positionierung, da an den Märkten ein rosiges Szenario - “sanfte Landung” der globalen Wirtschaft und erste Zinssenkungen Ende 2023 - eingepreist ist. Weiter seien die Bewertungen wieder deutlich gestiegen und die “Auswirkungen der massiven Zinserhöhungen werden sich in den kommenden Monaten Schritt für Schritt in der Konjunkturentwicklung bemerkbar machen”. Letzteres wird die Gewinnschätzungen belasten. 

Ähnlich - Zinsen schwächen Konjunkturkräfte - sieht es der Pictet-Chefstratege und setzt auf Unternehmen mit guter Qualität und defensivem Charakter. Investoren sollten derzeit nicht zu optimistisch sein. Rühl bevorzugt wegen den verfrühten Zinshoffnungen den wenig konjunktursensitiven Schweizer Markt gegenüber der stärker zyklischen Eurozone. 

"Das Umfeld, das sich in den nächsten Monaten zusammenbraut, ist auf jeden Fall deutlich schlechter als vor der Corona- und Ukraine-Krise," so Hartmann. Für den Anleger sei daher Defensive angesagt. Aktien - vor allem zyklische - sollte der Investor untergewichten. Das gleiche gelte für High Yields. Die sicheren Häfen wie hochqualitative Staatsanleihen sollten dagegen übergewichtet sein.

ManuelBoeck
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