Markus Kramer, Auto-Spezialisten wie Lucid, Rivian, Nio und Aiways spriessen aus dem Boden. Ist Tesla bald einer von vielen?

Markus Kramer: Tesla heftet sich immer noch Pioniergeist und Innovation auf die Fahne. Die Vorteile des First Movers hat Tesla nach wie vor. Der Hype um aufstrebende neue Marken wie Lucid, Rivian und Nio wird überschätzt. Sie punkten mit Design, einer grossen Reichweite oder einer auswechselbaren Batterie, sind technologieaffin, cool und edgy. In den nächsten fünf Jahren wird das selbstverständlich und keine besondere Differenzierung mehr sein. Wobei die etablierten Hersteller massiv zulegen werden. Von dort wird der grösste Druck auf Tesla kommen. Tesla hatte diese in den vergangenen Jahren links überholt. Jetzt werden sie Tesla rechts überholen.

Werden die Nischenanbieter dabei zerrieben?

Tesla wird es sich leisten können, in den kommenden Jahren so viele Millionen Autos zu produzieren und zu verkaufen, dass Nischenanbieter nicht mithalten können. Aber: Wenn sie sich auf das konzentrieren, was sie am besten können – und zwar Design, Vermarktung und mindestens eine technologische Spezialität, die sie von Tesla und anderen Herstellern markant abhebt –, dann werden sie gut durchkommen. Mit Abo-Modellen, sehr grosser Reichweite oder Fahren mit Cloud-Steuerungen.

Gibt es genug Platz für alle?

Es wird zu einer Konsolidierung im E-Auto-Markt kommen. Von Anbietern wie Lucid, Nio, Rivian, Aiways und wie sie heissen, werden nicht alle übrig bleiben. Vielen von diesen Anbietern fehlt für ein langfristiges Angebot der Atem, weil sie zu klein, zu unbekannt und zu nischig sind. Derzeit profitieren sie stark vom David-gegen-Goliath-Image.

Wer wird sich durchsetzen?

Es wird viele Anbieter mit unterschiedlichen Antriebssystemen geben. Wobei die Betreiberplattform wichtiger ist und die Autos nur noch in der Auftragsfertigung hergestellt werden. Die Kunst wird nicht die Autokonstruktion, der Wasserstoff oder der Akku sein. Es wird nicht mehr um Automobile gehen. Sondern um Aufmerksamkeitsbewirtschaftung durch Plattformen.

Die meisten E-Auto-Hersteller setzen auf SUV und Limos. Warum?

Zwei Gründe, erstens: Sedans sind sehr gut geeignet, preislich den Mittelklasse- und gehobenen Markt zu besetzen. Zweitens wegen der Technologie: Die tiefe Lage der Batterie, gute Gewichtsverteilung und eine nahe Bodenlage des Fahrzeugs ermöglichen gute Leistungswerte und ein attraktives Design. Mit diesen Wagen versucht man zuerst höherpreisig in der westlichen Welt Fuss zu fassen.

Ist das in allen Märkten gleich?

China macht es anders. Dort herrscht zwar auch ein Premium-Anspruch, aber man setzt vielmehr auf Funktionalität: grosse Passagierkapazität, grosse Reichweite, die Höchstgeschwindigkeit ist hingegen nicht so wichtig.

Gibt es Unterschiede in den Marktbearbeitungsstrategien?

SUV und Trucks sind vor allem in den USA sehr beliebt, dafür steht zum Beispiel Rivian. Funktionelle Wagen mit grösserem Fassungsvermögen, also auch SUV, sind in China der Renner. Und in Europa ist es eher das Mittelklasseauto wie Lucid oder Tesla Model S. Und Nio, die kürzlich in Norwegen gestartet sind. Derzeit spielt sich die Marktdurchdringung vor allem über die Antriebstechnologie ab. In fünf bis zehn Jahren aber, wenn die Infrastrukturen für alternative Antriebe so ausgebaut sein werden, spielt es keine Rolle mehr, ob ich mit Akku 1000 Kilometer weit komme oder mit Wasserstoff 700 Kilometer. Nur Benzin wird es eben kaum mehr sein.

Warum wollen Apple und Amazon Autos verkaufen?

Da geht es um Daten. Mit einem neuen Hardwareprodukt kann man zusätzliche Services und Abos verkaufen. Amazon verdient viel Geld mit Cloud-Services, Apple mit Abos von weiteren Dienstleistungen. Die Fahrzeuge dienen als Plattform, um diese Services an den Kunden und die Kundin zu bringen. Die Anbieter buhlen dabei um die Aufmerksamkeit des Konsumenten. Wenn der Fahrer im Schnitt mindestens eine halbe Stunde pro Tag im Auto verbringt, dann kann man diesen über die Auto-Plattform gut erreichen. Das ist pures Gold für Big Tech.

Ein Shop auf vier Rädern?

Vereinfacht gesagt ja. Es geht um den Screen im Auto, nicht um den Akku oder das Chassis.

Ist autonomes Fahren die Schlüsseltechnologie der Zukunft?

Das wird schneller kommen, als wir denken, und weniger eine Frage von Apple, Lucid oder Tesla, ob diese Hersteller das technisch umsetzen können. Sondern wie man das gesetzlich regeln können wird. Die Anreize, Vertrauen in diese Technologie auf Konsumentenseite aufzubauen, das wird durch hybride Ansatzmodelle forciert: autonome Autos im Abo im Stadtbereich, Steuervorteile für die Nutzer, Airbnb für E-Pkw und so weiter.

Markus Kramer ist Experte für Markenstrategie bei der Zürcher Beratungsagentur Brand Affairs mit umfassender Erfahrung in den Bereichen globales Marketing, Digital-, Medien- und Reputations-Management in verschiedenen Sektoren, darunter Automotive-, Finanzdienstleistungen, Logistik, Regierungs-Institutionen und NGOs. Er ist ausserdem Gastprofessor für Markenmanagement an der Cass Business School in London und Autor von The Guiding Purpose Strategy, A Navigational Code for Growth sowie Co-Autor des Responsible Investment Brand Index.

Kramer hat einen MBA von der University of Oxford sowie einen Abschluss in FinTech und Future of Commerce vom MIT. Zu seinen beruflichen Stationen zählen das Management des globalen Marketings bei Aston Martin, die Verantwortung als Chief Marketing Officer bei Vertu sowie das Management des EMEA-Marketings bei Harley-Davidson.

Dieses Interview erschien zuerst im Digitalangebot der "Handelszeitung" unter dem Titel: «Der Hype um Lucid, Rivian und Nio wird überschätzt».